Jörg Handstein ist Musikwissenschaftler, Autor und Kritiker. Seit vielen Jahren schreibt er regelmäßig für die Programmhefte der Klangkörper des Bayerischen Rundfunks. Für BR-KLASSIK ist er quasi zum Spezialisten für Hörbiografien geworden, denn mittlerweile tragen bereits sieben dieser Produktionen seine Handschrift. Dabei begibt er sich immer auch auf die Suche nach bisher unbekannten Quellen. Grund genug, Jörg Handstein auch einmal zu Wort kommen zu lassen.
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BR-KLASSIK: Erst im September fanden die Aufnahmen für die neue Hörbiografie "Tschaikowsky - Der Wille zum Glück" statt. Wie lange dauern eigentlich die Recherche- und Schreibarbeiten für so eine Hörbiografie, bevor die Produktion dann endlich starten kann?
Jörg Handstein: Mit der Recherche muss ich schon im Januar beginnen, um einen guten Überblick über das Leben und Schaffen des Komponisten und auch den historischen Hintergrund zu bekommen. Das konzentrierte Schreiben dauert mindestens drei Monate, eigentlich den ganzen Sommer. Dann brauch ich erst mal Urlaub, bevor es ins Studio geht.
BR-KLASSIK: Wie muss man sich eine solche Produktion denn konkret vorstellen? Welche Schritte sind notwendig? Und wie fühlt es sich an, wenn am Ende alles zu einem großen Gesamtwerk zusammengefügt wird?
Bernhard Neuhoff (li.) und Jörg Handstein (re.) | Bildquelle: (c) Thomas Becker Jörg Handstein: Zuerst sitzen die Sprecher einzeln vor dem Mikrofon. BR-KLASSIK-Redakteur Bernhard Neuhoff sorgt als Regisseur dafür, dass der Text angemessen und lebendig rüberkommt. Es entsteht so etwas wie eine inszenierte Erzählung. Dazu trägt auch das Zusammenschneiden der Aufnahmen bei. Unsere Technikerin Daniela Röder taucht dann stundenlang hinter ihrem Bildschirm ab. Am Ende wirken die vielen Schnipsel wie aus einem Guss. Bei der Abmischung sind die Ohren des Toningenieurs gefragt. Michael Krogmann an den Reglern sorgt mit unglaublichem Fingerspitzengefühl für eine wirklich musikalische Einbettung der Tonbeispiele. Das ist nicht so einfach, schließlich hat Tschaikowsky nicht extra für die Hörbiografie komponiert, und manchmal schimpft Michael auch über ihn (oder mich, weil ich das Beispiel ausgesucht habe). Aber wenn Erzählung und Musik dann insgesamt doch einen Fluss bilden, fühlt es sich schon gut an.
BR-KLASSIK: Der Mythos um Tschaikowsky hielt sich lange Zeit. Als Neurotiker, dem seine Homosexualität zum Verhängnis wurde, wurde er beschrieben. Wie würdest Du nach dem jetzigen Erkenntnisstand Tschaikowsky kurz charakterisieren. Was war er für ein Mensch und was war ihm wichtig?
Jörg Handstein: Natürlich war es kein Spaß, im 19. Jahrhundert schwul zu sein. Man konnte keine normale Beziehung führen, und daran litt Tschaikowsky. Aber seine Depressionen und Ängste haben auch andere Ursachen, etwa eine gesteigerte Sensibilität. Und die ging auch mit einer großen emotionalen und sozialen Intelligenz einher. Er wirkte sehr sympathisch und gütig, hatte Humor und sogar die Fähigkeit zur Selbstironie. Er hatte, glaube ich, auch große seelische Kräfte. Sonst hätte er sich nicht, ganz allein, ohne Psychotherapie, immer wieder aufgerappelt. Er war ein sehr komplexer und nicht bis ins letzte ergründbarer Charakter. Und genau das fasziniert mich an ihm. Wichtig waren ihm seine Familie, seine Freunde und vor allem seine Arbeit, die er auch als eine Art Therapie gegen die Depression verstand.
Ich kann nur durch meine Musik zum Glück der Menschheit beitragen.
BR-KLASSIK: Du sprichst von großen seelischen Kräften. Waren diese vielleicht der Antrieb zu seinem "Willen zum Glück" und kann dieser Wille nicht auch einfach als Überlebenswille beschrieben werden? Oder steckt doch viel mehr dahinter?
Jörg Handstein: Schwer zu sagen. Irgendwann stößt so ein Psychologisieren und Spekulieren auf Grenzen. Er hatte wohl auch deshalb besonderen Überlebenswillen, weil er manchmal mit Phasen von Lebensmüdigkeit kämpfen musste. Diesen Willen bezog er sicher auch aus seinem Schaffensdrang: Die Musik half ihm ja beim Überleben. Aus dem Gelingen eines Werkes, aus Erfolgen und später beim Dirigieren bezog er große Glücksmomente. Und er wollte, dass man sich mehr für seine Musik als seine Person interessierte.
Unzählige Male habe ich mich bemüht, die Qualen und die Seligkeit der Liebe in meiner Musik zum Ausdruck zu bringen.
BR-KLASSIK: Spekulation ist ein gutes Stichwort. Auf welche neuen Erkenntnisse bist Du bei den Recherchen gestoßen? Die Hörbiografie geht ja etwa auch auf bisher verschwiegene Briefstellen ein. Und was hat Dich dabei am meisten überrascht?
Udo Wachtveitl als Erzähler | Bildquelle: (c) Thomas Becker Jörg Handstein: Eine Fundgrube der neueren Forschung sind die von der Tschaikowsky-Gesellschaft herausgegebenen "Čajkovskij-Studien". Dort finden sich auch diese Briefe, in denen er von seinen homoerotischen Abenteuern berichtet. Und zwar wirklich überraschend freizügig. Außerdem benutzt Tschaikowsky nicht das Wort "Homosexualität", wie es meist in den Biografien steht, sondern "bugromaniya", nach dem französichen "bougre". Das war die damals gängige, sehr krasse und abwertende Bezeichnung für Schwule. "Carnalis copula contra naturam" umschreibt es ein altes Lexikon. So was findet man, wenn man etwas den historischen Quellen nachspürt, die ja für das Konzept unserer Hörbiografien immer wichtig sind.
Wir treffen uns auf dem Boulevard, und sofort verliebe ich mich. Ich lade ihn in ein Gasthaus ein, wir nehmen ein Séparée, er setzt sich neben mich auf das Sofa, zieht die Handschuhe aus…
BR-KLASSIK: Fanden sich in den historischen Quellen eigentlich auch Hinweise zu den genauen Todesumständen?
Jörg Handstein: Da gibt es ausführliche Dokumente. In seinem hochinteressanten Buch "Tschaikowskys Tod" druckt Alexander Poznanzky viele davon ab. Er zerlegt auch sehr akribisch die altbekannte These, dass Tschaikowsky von einem "Ehrengericht" wegen seiner Homosexualität zum Selbstmord verurteilt worden sei und sich daraufhin vergiftet habe. Die Quellen berichten aber vom Tod durch Cholera, und die Forschung und ernsthafte Biografistik gehen heute davon aus, dass dies auch stimmt. Dem schließe ich mich an.
BR-KLASSIK: Im Einführungstext zur Hörbiografie ist zu lesen, dass Tschaikowsky von der deutschen Musikwissenschaft nahezu ignoriert wurde und seine an Melodik und Gefühlsausdruck orientierte Ästhetik ihn verdächtig gemacht habe. Wie ist das aus musikalischer Sicht zu verstehen? Was war an seiner Musik anders?
Jörg Handstein: Heute tragen deutsche Musikwissenschaftler schon einiges bei zu Tschaikowsky. Man ist nicht mehr so dogmatisch wie zu Theodor W. Adornos Zeiten, der etwa die Symphonien in die Nähe kitschiger Filmmusik oder Potpourris gerückt hat. In der Tat ist bei Tschaikowsky die motivisch-thematische Arbeit, die Musikwissenschaftler so gerne analysieren, nicht entscheidend für seine Kunst. Dafür ist sie auch Hörern zugänglich, die sonst mit Klassik nicht so vertraut sind. Tschaikowskys Musik wirkt unmittelbarer, in plakativen Passagen fast körperlich direkt. Das heißt aber nicht, dass dahinter keine Kunst, keine Aussage steckt. Es kommt vielleicht auch darauf an, wie er gespielt wird: Beethovens oder Brahms' Genie ist selbst in mittelmäßigen Aufführungen noch spürbar. Mittelmäßig gespielter Tschaikowsky klingt dagegen einfach nur schlecht und nervig. Zum Glück, auch für unsere Hörbiografie, gibt es heute viele gute Aufnahmen!
Mit Kritikern habe ich kein Glück! In Europa nennt man meine Musik 'stinkend'!
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Das Studio kurz vor Aufnahmebeginn
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Das Produktionsteam
Daniela Röder (Technikerin ), Michael Krogmann (Toningenieur), Bernhard Neuhoff (Regisseur), Jörg Handstein (Autor) - v.l.n.r. | Bildquelle: (c) Thomas Becker
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Regisseur Bernhard Neuhoff
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Udo Wachtveitl als Erzähler
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Udo Wachtveitl als Erzähler
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Stefan Wilkening als Tschaikowsky
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Daniela Röder und Bernhard Neuhoff
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Michael Krogmann
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Bernhard Neuhoff und Jörg Handstein
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