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100 Jahre Mozartfest Würzburg, 75 Jahre Bamberger Symphoniker, Nürnberger Symphoniker und Windsbacher Knabenchor sowie 70 Jahre Musikfest ION (Internationale Orgelwoche Nürnberg). Das sind fünf kulturelle Leuchttürme, die weit über die Region hinausstrahlen und die gleichzeitig – jeder auf seine Weise – die Kulturgeschichte der Nachkriegszeit und der Bundesrepublik Deutschland widerspiegeln.
Zerstörungen in Bamberg 1945 | Bildquelle: Stadtarchiv Bamberg Frühjahr 1946. Noch nicht ganz ein Jahr ist es her, dass der schlimmste Krieg der Menschheitsgeschichte zu Ende gegangen ist. Von Deutschland aus wurden im Holocaust Millionen unschuldiger Menschen umgebracht, große Teile Europas sind durch Bombenangriffe zerstört, unzählige Menschen auf der Flucht. In Windsbach ziehen die ersten Schüler ins notdürftig instandgesetzte Internat ein – sie bilden den Kern des berühmten Windsbacher Knabenchors.
In Bamberg treffen sich versprengte und entwurzelte Musiker – viele von ihnen kennen sich aus Prag – und gründen ein neues Orchester: die Bamberger Symphoniker. Auch die Nürnberger Symphoniker haben damals zusammengefunden. Es ist eine Zeit des kulturellen Aufbruchs, des Neuanfangs zwischen Schuld und Zerstörung.
Warum zum Beispiel wurden die Bamberger Symphoniker in Bamberg gegründet? Weil Bamberg nicht so kaputt war wie Nürnberg.
Nürnberger Altstadt 1945 | Bildquelle: picture alliance/prisma/Schultz Reinhard Die kleineren Städte haben dabei einen Standortvorteil, erläutert die Historikerin Andrea Kluxen, Kulturreferentin und Bezirksheimatpflegerin in Mittelfranken: "Warum zum Beispiel wurden die Bamberger Symphoniker in Bamberg gegründet? Weil Bamberg nicht so kaputt war wie Nürnberg. Die Nürnberger Symphoniker wurden in Fürth gegründet. Fürth war jetzt auch nicht, nachdem es neben Nürnberg liegt, verschont geblieben. Aber da konnte man das eher gründen. Also, da sieht man, dass die Regionen außerhalb der Großstädte enorm wichtig waren, um Kulturinitiativen zu gründen und Kultur wieder möglich zu machen."
Ein weiterer Motor des kulturellen Aufbruchs war die unglaubliche Dynamik, die aus Flucht und Vertreibung resultierte. Deutsche aus Schlesien, Ostpreußen oder dem Sudetenland wurden von den zuvor unterdrückten und terrorisierten Polen, Tschechen oder Russen aus ihren Dörfern und Städten vertrieben oder verließen ihre Heimat, weil sie die Rache der Roten Armee fürchteten.
Eine Gruppe Vertriebener zieht durch 1945 ein Dorf in Westpommern | Bildquelle: picture alliance/akg-images Die Flüchtlinge und Vertriebenen versuchten, in die amerikanische oder britische Besatzungszone zu gelangen. Die meisten Sudetendeutschen etwa kamen ins benachbarte Franken, wie Andrea Kluxen erzählt: "Die Vertriebenen haben im Bundesschnitt zu einem Bevölkerungszuwachs von gut zehn Prozent geführt. In Bayern waren es dann etwa 25 Prozent, und in Franken lag das in manchen Landkreisen bei über 50 Prozent. Also Franken war eine Region, die viele Menschen aufgenommen hat."
Geflüchtete aus Prag und dem Sudentenland, Musikerinnen und Musiker aus ganz Deutschland auf der Suche nach einer Perspektive fanden sich etwa in Bamberg zusammen, weil die Stadt ein kleines Orchester für ihr Theater suchte. Es wurde daraus ein großes Sinfonieorchester.
Der Fränkische Reichskreis | Bildquelle: BR Die Breite des kulturellen Angebots auch im kleinstädtischen und ländlichen Bereich hängt aber nicht nur mit zerbombten Großstädten zusammen. Die Ursachen dafür liegen tief in der Vergangenheit begründet, reichen weiter zurück als bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Denn Franken war bis zu Napoleons Zeiten nie ein zusammenhängendes Territorium mit einer Zentralmacht gewesen. Neben unzähligen Reichsrittern, die über ein paar Dörfer herrschten, gab es drei Fürstbistümer in Würzburg, Bamberg und Eichstätt, zwei große Markgrafschaften, Brandenburg-Bayreuth und Brandenburg-Ansbach, fünf freie Reichsstädte mit eigenen Landgebieten und mehrere Reichsgrafschaften.
Die Orangerie in Ansbach | Bildquelle: Ulrich Kalthoff, , 15.02.2021
Und alle diese politischen Akteure wollten ja zeigen, dass sie sich für wichtig und einflussreich hielten – insbesondere durch kulturelle Repräsentation. Alle brauchten eine prachtvolle Residenz oder eine Burg, eine prächtig ausgestattete Hauptkirche, einen Landsitz, ein Hoftheater – und eine Hofkapelle.
"Zentralismus ist natürlich etwas, was in großen Territorien vorkommt. Das war in Franken nicht so. Da konnte man innerhalb von einem Tag mehrere Herrschaftsgebiete durchwandern", sagt Andrea Kluxen. "Wir finden überall Repräsentationsformen wie Schlösser. Wir haben sehr viele Kirchen, in jedem Dorf mindestens eine, wenn nicht sogar mehrere. Wir haben unterschiedliche Künstler, die tätig waren, sodass wir die Vielgestaltigkeit nicht nur in den Herrschaftssystemen haben, sondern auch in der Kultur."
In Franken trafen schon immer die unterschiedlichsten kulturellen Einflüsse in enger geografischer Nähe aufeinander und befruchteten sich gegenseitig, so Andrea Kluxen: "Das ist natürlich ein Unterschied, ob jetzt der Fürstbischof von Würzburg etwas baut und sich bedeutende Künstler kommen lässt aus Italien oder Österreich, oder ob der Markgraf von Ansbach oder Markgraf von Bayreuth etwas bauen lässt. Die evangelischen Fürsten tendierten zum Beispiel im Barock eher zu einer rationalen Form, die es in Frankreich gab."
Die fürstbischöfliche Residenz in Würzburg | Bildquelle: Klaus Hofmann, Mainstockheim, 04.06.2020 Zwar haben die Festivals und Musikveranstaltungen von heute nichts mehr mit der höfischen Kultur von Fürsten und Bischöfen zu tun, doch entstanden sie oft aus dem Wunsch heraus, die prachtvollen Baudenkmäler der Vergangenheit auch heute mit kulturellem Leben zu füllen – wie etwa beim Mozartfest Würzburg. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor der Adel in Deutschland seine Macht, in Weimar gab sich das Land seine erste demokratische Verfassung. Viele Schlösser und Herrenhäuser standen jetzt leer – da lag eine kulturelle Nutzung nur nahe. In Würzburg war es ein Kunsthistoriker, der zum 200-jährigen Jubiläum der Grundsteinlegung 1920 die erste Konzertveranstaltung im Kaisersaal der Residenz organisierte.
Mir wollte scheinen, als ob mit einem Male alle Figuren des Saales, alle Plastiken, alle Gemälde lebendig würden.
Hermann und Margarete Zilcher 1942 | Bildquelle: Stadtarchiv Würzburg Im Jahr darauf übernahm Hermann Zilcher, Direktor des Würzburger Staatskonservatoriums, die musikalische Gestaltung der neu eingeführten Musik- und Theaterwoche. Die Aufführung des Exultate, jubilate von Mozart am 11. Juli 1921 war wie ein Erweckungserlebnis für Zilcher, wie er sich später erinnerte: "Da geschah das Merkwürdige: mir wollte scheinen, als ob mit einem Male alle Figuren des Saales, alle Plastiken, alle Gemälde lebendig würden, ich brauchte manche Ornamentik mit dem Dirigentenstab nur nachzuzeichnen – und eine innige Vermählung zwischen Ton, Architektur und Farbe fand statt."
Mozarts Musik und der Kaisersaal der Würzburger Residenz – eine perfekte Symbiose. Und so stand von da an stets das Werk des Meisters im Mittelpunkt, obwohl dieser nur einmal kurz in Würzburg weilte, als er auf der Durchreise einen Kaffee trank.
Für alle Neugründungen und Wiedergründungen nach dem Krieg gab es eine Schwierigkeit: die Finanzierung. Um diese Hürde zu überwinden, half ab 1949 der neu geschaffene öffentlich-rechtliche Rundfunk.
Damals waren ja alle Sendungen live (...), man musste immer bereit sein.
Windsbacher Knabenchor 2018 | Bildquelle: Mila Pavan Ob Bamberger Symphoniker, Windsbacher Knabenchor, Mozartfest Würzburg, Nürnberger Symphoniker oder Musikfest ION: Die Aufnahmetätigkeit für den Bayerischen Rundfunk – die bis heute andauert – schuf erst die Sicherheit, um sich weiter zu entwickeln. So erzählte Erich Kloss, der erste Chefdirigent der Nürnberger Symphoniker, im Jahr 1963: "Damals waren ja alle Sendungen live, es war für das Orchester eine große Leistung, denn man musste immer bereit sein, und da wir zu jener Zeit fast täglich im Programm waren, sei es in der Früh', sei es mitten in der Nacht, war das eine ziemliche Anstrengung, aber sie hat uns Freude gemacht, es war etwas Neues und es war für das Orchester ja ein ganz neuer Abschnitt."