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Ragna Schirmer - Liebesbrief an mein Klavier "Jede Liebe beginnt mit einer Entdeckung"

Ragna Schirmer ist eine vielseitige und spontane Pianistin, die nicht nur immer wieder an ihre eigenen Grenzen geht, sondern auch Grenzen der Instrumente auslotet - mit ihnen in Beziehung tritt. In einem Brief bringt die Künstlerin eine ganz persönliche Liebeserklärung an "ihr Clavier" zum Ausdruck.

Romantisch-Nostalgisches Klavier | Bildquelle: Pixabay

Bildquelle: Pixabay

Jede Liebe beginnt mit einer Entdeckung

Vor fünf Jahren wurde ich eingeladen, ein ganz besonderes Konzert zu geben: in Frankfurt am Main, auf Clara Schumanns Original-Übeflügel, den sie während ihrer letzten Lebens-Jahrzehnte in ihrer Frankfurter Wohnung stehen hatte, und auf dem ihr Freund Johannes Brahms aller Wahrscheinlichkeit nach auch die ein oder andere Komposition zu Gehör gebracht hatte. Dieser Flügel wird sehr selten gespielt, die Museumsleiterin schont ihn eher.

So weit, so spannend.

Aber es war eben ein altes Instrument. Und während der ersten Takte des Abends klang der Flügel auch eher nach Staub und zwei überstandenen Weltkriegen.

Okay, denke ich, probier mal, was geht: Die Grenze des Leisen ausloten. Töne nur noch hinhauchen. Die von Clara persönlich eingespielten Tasten streicheln. Und da geschieht etwas. Der Flügel antwortet. Fängt an, ganz leise zu singen. Zeigt mir Farben, die ich noch gar nicht kannte. Durch eine graue Klang-Patina schimmern Pastell-Töne in bis dato ungekanntem Facettenreichtum. Wir entdecken uns ... Ich lote auch mal die kräftigeren Klänge aus. Das Holz beginnt zu schwingen, als wäre es aus dem Dornröschenschlaf erwacht. Wir singen um die Wette, spielen uns in Ekstase. Ich will nie wieder aufhören.

Nächster Programmpunkt nach den Werken der jungen Clara ist Johannes Brahms: die Zwei Rhapsodien op. 79. Sehr wahrscheinlich, dass der Meister selbst diese Stücke auf diesem Flügel in dieser Stadt gespielt hatte. Bei den ersten Tönen fühle ich: So sollte das klingen. Diese Tiefe, diese Fülle, diesen Klang habe ich noch nie auf einem modernen Instrument erlebt. Ich gerate in eine Art Trancezustand. Weiß nicht mehr, ob ich selbst spiele oder nur Gast bin bei einem extremen Erleben. Der Raum hält den Atem an. Als ich vom Klavier aufstehe, kämpfe ich mit den Tränen.

Seitdem hat mich diese Liebe nicht mehr losgelassen.

Ich miete mittlerweile ein Lager mit diversen Instrumenten aus verschiedenen Epochen. Wenn ich die Möglichkeit habe, auf Original-Instrumenten zu spielen, entweder mit meinen zu reisen oder neue zu entdecken, dann freue ich mich sehr. Diese Konzerte sind immer sehr intensiv und besonders.

Auch meine Beziehung zum modernen Flügel hat sich verändert. Ich versuche mehr und mehr, bei jedem Instrument, das ich kennenlerne, seine Grenzen auszuloten, die Stärken und Schwächen zu erkennen und während des Spiels in Beziehung zu treten.

Wenn mir dann nach einem Konzert ein Zuhörer sagt, der Flügel habe gesungen, bin ich glücklich.

Danke, Clara.

Ragna Schirmer

Der Brief wurde unter dem Eindruck eines Konzertes in Frankfurt am Main im Januar 2011 von Ragna Schirmer geschrieben.

Ragna Schirmer auf BR-KLASSIK        

Am 25. März 2017 tritt die Künstlerin im Rahmen der "Langen Nacht der Clavier-Musik" auf.
Außerdem ist die Pianistin in der Sendung "Meine Musik" ebenfalls am 25. März 2017 zu Gast.  

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