Alle wollen ihn hören, den Petrenko-"Ring" an der Bayerischen Staatsoper - und das nicht ohne Grund. Am Freitag hat Kirill Petrenko den letzten Teil von Wagners Tetralogie in München dirigiert. Unser Kritiker war begeistert.
Kirill Petrenko, so hieß es nach der "Walküre", sei ein Perfektionist, der sich manchmal selbst im Weg stehe. Klarheit in allen Ehren, aber es sei zu befürchten, dass aus dem skrupulösen Petrenko ein Kontrollfreak werde. Der gestrige Abend hat diesen Einwand furios widerlegt. Nein, ist er eben gerade nicht. Richtig ist: Er ist ein Deutlichkeitsfanatiker.
Und das muss ein Dirigent erst mal können: so präzise und verständlich schlagen, dass sich bei einer hochkomplexen Partitur neue Tempi nicht erst nach einer Sekunde der Unsicherheit einpendeln, sondern auf Anhieb synchron von hundert Musikern umgesetzt werden. Hörbar wird durch diese Genauigkeit eine ganze Welt von aufregenden Details, die sonst gern im pauschalen Klangstrudel des Wagner'schen Riesenorchesters untergehen. Versteckte Gegenstimmen kommen ans Licht, vorüberhuschende Motive leuchten auf, flirrende Streicherfiguren sind Ton für Ton wahrnehmbar, und das bei oft rasanten Tempi.
Ein hochauflösender Orchestersound: Mitlesen in der Partitur erübrigt sich. Ununterbrochen ist das Ohr lustvoll beschäftigt. Man staunt beglückt, wieviel man neu entdecken kann in diesem Stück, auch wenn man es oft gehört hat. Die Zeit vergeht im Flug, und das ist nun wirklich keine Selbstverständlichkeit bei Wagner. Eine kurzweiligere "Götterdämmerung" habe ich nie gehört. Das ist das eine. Eine aufregendere, frenetischere, emotional packendere auch nicht. Das ist das andere. Dadurch erst wird Petrenko für mich zum besten Wagner-Dirigenten der Gegenwart. Wenn thematische Übergänge magisch die Stimmung verwandeln, wenn sich Steigerungen aus dem Nichts entwickeln und schon unentrinnbar sind, ehe man sich darüber klar geworden ist, was gerade passiert, und wenn man dann mitgerissen wird von vorwärtstreibenden Energien, dann kann das unmöglich alles bloß kopfgesteuert sein. Dann sind Bauch und Rückenmark gleichermaßen im Spiel. In der Musik gibt es im Verhältnis von Gefühl und Verstand kein Entweder-Oder. Petrenko bietet von beidem mehr als die meisten seiner Kollegen: mehr Emotion und mehr Klarheit, mehr Hirn und mehr Herz.
Nicht dass diese Aufführung steril perfekt gewesen wäre. Weil Petrenko seinem Orchester offenbar vertraut, geht er auch kalkulierte Risiken ein. Während Regisseur Andreas Kriegenburg in der "Götterdämmerung", dem vierten und letzten Teil des Rings, seinem eigenen ursprünglichen Konzept offenbar nicht mehr viel zutraut. In den ersten drei Teilen des Rings bot Kriegenburg manchmal charmantes, oft harmloses Märchentheater. In der "Götterdämmerung" wechselt er plötzlich in die kapitalistische Gegenwart. Die Halle der Gibichungen ist eine gläserne Konzernzentrale mit grauen, gleichgeschalteten Anzugträgern. Gutrune schaukelt lasziv auf einem Eurozeichen. Immerhin gibt es eine meist ideenreiche Personenführung. Inhaltlich aber leider nicht viel mehr als Instant-Kapitalismuskritik.
Dafür ist das Sängerensemble exzellent. Stephen Gould bewältigt die mörderische Partie des Siegfried insgesamt glanzvoll. Der Hagen von Hans-Peter König hat innere Ruhe und eindrucksvolle Kraftreserven, ich hätte mir mehr bösartige Energie gewünscht. An das in der Mittellage ungewohnt dunkle Timbre von Petra Lang muss man sich ein wenig gewöhnen. Mit leuchtenden Spitzentönen und müheloser Durchschlagskraft zeichnet sie ein intensives Rollenporträt der Brünnhilde. Aber den größten Jubel bekommt der Dirigent. Angeblich hat Petrenko ja keine so großen Chancen darauf, Nachfolger von Simon Rattle bei den Berliner Philharmonikern zu werden. Als Münchner kann man da nur sagen: Glück für Bayern.