Das jüdische Musikleben zur NS-Zeit stand im Zeichen von Terror und Ausgrenzung. Dennoch war es überraschend vielfältig. Seit dem Frühjahr 2020 gibt es an der Hochschule für Musik und Theater in München das Ben-Haim-Forschungszentrum, das sich mit dem jüdischen Musikleben in Süddeutschland auseinandersetzt. Welche Geschichten und Perspektiven kommen dadurch ans Licht?
Nur wenige Werke und Aufnahmen der jüdischen Musik aus der Zeit des Nationalsozialismus sind erhalten. Eines davon ist das Oratorium "Jiddisch Lebn" des Dirigenten und Komponisten Max Ettinger. Wegen seiner jüdischen Herkunft musste er 1933 in die Schweiz emigrieren – ein Schicksal, das damals vielen Künstlerinnen und Künstlern aufgezwungen wurde. Tobias Reichard, Musikwissenschaftler am Ben-Haim-Forschungszentrum an der Münchner Musikhochschule, hat es sich zur Aufgabe gemacht, solche Geschichten zu erforschen. Neben seiner eigentlichen Forschung, die sich meist in Archiven und Bibliotheken abspielt, veranstaltet er seit zwei Jahren auch Vorträge und Konzerte. Dadurch möchte er einen lebendigen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart anregen.
Laienmusik steht dabei genauso im Fokus wie professionelle Musik. Ebenso verschiedene Genres, betont er: "Es geht nicht nur um ‚klassische Musik‘, sondern auch um Unterhaltungsmusik und um synagogale Musik." Das "jüdische Musikleben" soll so breit wie möglich verstanden werden. Der Begriff ist dabei ganz bewusst gewählt. Denn er soll nicht nur die von Juden komponierte Musik bezeichnen, sondern die gesamte Bandbreite des jüdischen Musikleben zu jener Zeit. "Man hat immer den Eindruck, das sei eine fremde, exotische, abgeschlossene Welt. Aber es war genau das Gegenteil", erklärt Reichard. Bestimmend für das jüdische Musikleben, soweit es zur Zeit des Nationalsozialismus möglich war, seien nicht Aufführungen zeitgenössischer jüdischer Kompositionen gewesen, sondern Werke wie "Don Giovanni" oder "Fidelio". Der jüdische Musikkanon habe im Grunde aus denselben Komponisten bestanden wie der nicht-jüdische: Haydn, Beethoven, Mozart – vielleicht ein bisschen mehr Mendelssohn. Reichard beschäftigt sich in seiner Forschung also nicht nur mit den jüdischen Komponisten der Zeit, sondern vor allem auch mit den Orten und Umständen des jüdischen Konzertlebens. Auf diese Weise versucht er, sich den Schicksalen der Musikerinnen und Musiker zu nähern.
Die Forschung hierzu – das hat sich in den ersten zwei Jahren gezeigt – ist allerdings nicht immer ganz leicht. "Ein großer Verlust ist, dass immer weniger Zeitzeugen leben", erklärt Reichard. Dennoch gebe es eine Vielzahl von Berichten ehemaliger Mitglieder des Jüdischen Kulturbundes. Und: "Die Digitalisierung macht es möglich, dass man viel mehr Quellen zur Verfügung hat, als das vor zehn Jahren noch der Fall war." Trotzdem sei die Arbeit des Zentrums in den vergangenen beiden Jahren aufgrund von Corona schwierig gewesen, "weil die Quellen in der Regel nicht zugänglich vor Ort liegen, sondern teilweise wirklich um die ganze Welt verstreut sind."
Ich wünsche mir, dass diese Werke in ‚ganz normalen‘ Konzerten gespielt werden.
Gedenktage wie der an die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar spielen beim Ben-Haim-Forschungszentrum jedoch – anders als erwartet – nur eine untergeordnete Rolle. "Ich finde das manchmal ein bisschen bedauerlich, dass viele Werke von diesen Komponisten ‚nur‘ auf Gedenkkonzerte beschränkt sind. Ich würde mir persönlich wünschen, dass viel mehr dieser Werke in ‚ganz normalen‘ Konzerten gespielt werden, einfach weil diese Zeit der Verfolgung nur ein Bruchteil dessen war, was die viele Künstlerinnen und Künstler in ihrem Leben so geleistet haben."
Sendung: "Allegro" am 27. Januar 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK