Alles findet im Kopf statt, der Zuschauer muss sich seine eigenen Venedig-Bilder aus dem Gedächtnis holen. In der Stuttgarter Inszenierung von Benjamin Brittens letzter Oper werden visuelle Anspielungen auf den Schauplatz Venedig konsequent vermieden.
Bildquelle: © Oper Stuttgart
Ob der Schriftsteller Gustav von Aschenbach als Rettung aus seiner Schaffenskrise überhaupt nach Venedig reist, bleibt hier offen. Demis Volpi als Choreograph und Regisseur interpretiert Brittens topographische Szenenanweisungen nicht als Orte einer mediterranen Außenwelt, sondern als Stationen auf der Reise in Aschenbachs Innenwelt. Wie kompliziert und verschachtelt diese ist, symbolisiert Bühnenbildnerin Katharina Schlipf mit ihren abstrakten Wandelementen, die sich auf der Drehbühne zu immer neuen Konstellationen und Perspektiven verschieben und beleuchten lassen. Im Grunde kommt der Dichter aus seinen Büchern nicht heraus: Sie bilden seine eigentliche Umwelt. Aus Bücherstapeln auf der ansonsten leeren Bühne taucht Aschenbach zu Beginn der Oper auf, um sich wie Goethes Faust über den Verlust seiner Inspiration zu beklagen.
Szenenbild aus "Tod in Venedig" an der Oper Stuttgart | Bildquelle: © Oper Stuttgart
Im Unterschied zu Faust aber verlässt Aschenbach seine Bücherwelt nur in der Fantasie. Am deutlichsten spiegelt sich dies in der fünften Szene des ersten Aktes. Laut Libretto schaut Aschenbach am Strand dem polnischen Jungen Tadzio beim Spielen zu. In Stuttgart wird diese Szene in eine Art Bibliothek verlegt, in der Knaben in Badehosen einen Bücherturm anstelle einer Sandburg bauen. Es sind oft ähnlich surreale Bilder, die Aschenbachs Reise begleiten. Diese hat nur ein Ziel: Schönheit. Er findet sie vollendet in Tadzio, den er dem griechischen Gott Apollon gleichsetzt. Britten potenziert diese Sucht nach Schönheit noch, indem er Apoll und Tadzio als Tänzer auftreten lässt, Apoll aber eine Stimme aus dem Off schenkt. Mit dem Countertenor Jake Arditti ist sie so verführerisch besetzt, dass es auch um den Zuschauer geschehen ist.
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"Wenn der Verstand sich vor der Schönheit verneigt", so heißt es am Ende des ersten Akts, dann sei "Eros im Wort". Darum geht es in dieser außergewöhnlichen Inszenierung: um eine künstlerische Haltung, die auf einem hoffnungslos veralteten Begriff "Keuschheit" beruht. Nur einmal gestattet sich Volpi eine ironische Anspielung auf homoerotische Phantasien, wenn auch Apollons Spiele vom Strand in ein orientalisierendes, mega-kitschiges Interieur aus Gold und Rosa verlegt werden.
Matthias Klink als Gustav von Aschenbach | Bildquelle: © Oper Stuttgart
Dass diese Aufführung trotz des szenischen Verzichts einen Begeisterungssturm auslöste, liegt zuerst an dem Tenor Matthias Klink, der sich in der Rolle des Aschenbach selbst übertrifft und hier ein künstlerisches Profil erreicht, das allein den Besuch der Aufführung nahe legt. Seine Bühnenpräsenz ist überragend, Kondition, Ausdauer, Intensität und sängerische Perfektion sind nahezu unfassbar, denn er hat während der gesamten Aufführungsdauer kaum eine Pause. Oft wird ihm in dem kammerspielartigen Künstlerdrama nur das Klavier zur Seite gestellt, das im blendend aufgelegten Staatsorchester Stuttgart unter der schönheitstrunkenen Leitung von Kirill Karabits neben den markanten Bläsern, dem üppigen Schlagwerk, den Glocken und der Harfe eine Art Leitinstrument ist. Einen besseren Gegenspieler als den Bariton Georg Nigl könnte Matthias Klink nicht haben: handfest, lebensnah, komisch und extrem wandlungsfähig.
Premiere: 7. Mai 2017
Musikalische Leitung: Kirill Karabits, Willem Wentzel
Regie und Choreographie: Demis Volpi
Bühne und Kostüme: Katharina Schlipf
Weitere Infos und Termine unter oper-stuttgart.de
Sendung: Leporello am 8. Mai 2017, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK