Das Jazzfest Berlin gab es jetzt zum 60. Mal. Im Programm mit dem Motto „Spinning time“ ging es viel um das Zusammenführen von Vergangenheit und Gegenwart – mit Musiker:innen im Alter von 9 bis 85. Dabei erstaunte es, wie vehement im Hier und Jetzt gerade die Älteren waren.
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Bildquelle: Berliner Festspiele/ Peter Gannushkin
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Bildquelle: Jazzfest Berlin 2023/ Peter_Gannushkin
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Die künstlerische Leiterin Nadin Deventer wurde nicht müde hervorzuheben, wie groß die Altersspanne auf der Bühne diesmal war. Denn das Jazzfest Berlin, eines der bedeutendsten Jazzfestivals der Welt, brachte zum allerersten Mal in seiner seit 1964 bestehenden Geschichte einen Kinderchor auf die Bühne. Besser gesagt: 30 Kinder aus zwei Chören waren im Projekt "Apparitions" (Erscheinungen) rund um das hervorragende französische Quartett Novembre zu erleben. Zwei Bands und ein Cello-Trio ließen dabei klangliche Motive und Stimmungen wie tönende Traumsequenzen auftauchen und wieder verschwinden. Und plötzlich sangen vom Balkon herab – und später auch auf der Bühne – Kinderstimmen. Ein längeres Stück lang saßen die Kinder auch über die Breite der großen Bühne verteilt vor den Musikern und gaben Mitwirkende und Zuhörende zugleich ab. Ein in der Länge etwas ausuferndes, aber reizvolles Projekt mit der klaren Botschaft: Eine Musik wie der Jazz braucht eine Anbindung an die ganz junge Generation. Mit diesem Konzert und mit einem mehrere Tage dauernden "Impro-Camp" mit 30 weiteren Schülern zwischen 9 und 12 band sich das Jazzfest Berlin diesmal gleich auf zwei unterschiedliche Arten Kinder ins musikalische Geschehen ein: Kommunikation zwischen den Generationen als Möglichkeit der Kunst-Vermittlung.
Bildquelle: Berliner Festspiele/ Camille Blake Der älteste Musiker dieser – bis auf 32 Karten komplett ausverkauften - Festival-Ausgabe war der Pianist Alexander von Schlippenbach: Free-Jazz-Ikone, dieses Jahr 85 geworden, sechs Jahrzehnte deutscher Jazzgeschichte vereint in einer Person (beim Jazzfest hatte auch der Film "Tastenarbeiter" über ihn Premiere). Er trat mit seiner Frau, der Pianistin Aki Takase (75) auf, die ebenfalls eine Welt-Spitzenkraft des Jazz ist. "Four Hands Piano Pieces" nannte sich ihr gemeinsames Programm, gespielt zu vier Händen, zunächst auf zwei einander gegenüber stehenden großen Steinway-Flügeln – und am Ende nebeneinander an einem. Kompositionen von ihm und ihr, aber auch von Schlippenbachs Lehrer, dem Komponisten Bernd Alois Zimmermann, sowie eine enorm inspirierte Solo-Hommage von Aki Takase an die vor kurzem verstorbene Jazz-Größe Carla Bley mit deren Stück "Ida Lupino" ergaben dabei ein Kaleidoskop an kantigen und funkelnd witzigen Tasten-Klängen, das Stück für Stück mehr faszinierte. So viel klangliche Kompromisslosigkeit in Verbindung mit augenzwinkerndem Humor erlebt man selten – und auch selten ein so bewegendes musikalisches Paar. Charme, Innigkeit und hohe Ausdruckskraft bündelten sich hier, und zugleich fühlte man sich fast wie im Wohnzimmer eines Musikerpaars, das man schon immer mal besuchen wollte. Für viele war das ein Jazz-Erlebnis, das bei diesem Festival viele andere überstrahlte.
Bildquelle: Berliner Festspiele/ Camille Blake Solche Kontraste gab es beim Jazzfest 2023 sogar an einem einzigen von vier Abenden. In vielen Momenten des Programms ging die Rechnung auf, dass lebendige Jazzgeschichte und neue Ausdrucksformen einander reizvoll ergänzten. Man konnte Entdeckungen machen – etwa mit Gruppen wie "matter 100" der slowenischen Pianistin Kaja Draksler, dem berstende Energie entfesselnden Trio der amerikanischen Power-Saxophonistin Zoh Amba - und dem sensationellen "Ensamble Grande" der mexikanischen Sängerin und Komponistin Fuensanta, die fünf enorm fein gesetzte Frauenstimmen mit rau-schönem Instrumentalspiel einer Band mit Trompeter Alistair Payne und Schlagzeugerin Sun-Mi Hong zusammenbringt. Oder auch mit der jungen belgischen Pianistin Marlies Debacker: Sie erkundet in einem hochkonzentrierten Solo-Konzert die Nuancen des Geräuschhaften so, dass der Flügel mal wie Äolsharfen aus der Ferne und mal wie eine heranrollende Brandung klingt; in rund 45 Minuten fand sie dabei zu einer packend-ernsthaften ästhetischen Geschlossenheit.
Und man konnte Wieder-Entdeckungen genießen. Die stärkste davon war der diesjährige Träger des Albert-Mangelsdorff-Preises. Das ist der wichtigste deutsche Jazzpreis, vergeben von der Deutschen Jazz-Union. Jetzt erhielt ihn der Posaunist Conny Bauer (vor kurzem 80 geworden), der einst in DDR-Zeiten mit Saxophonist Ernst-Ludwig Petrowsky, Pianist Ulrich Gumpert und Schlagzeuger Günter Baby Sommer das epochemachende Quartett Synopsis (später "Zentralquartett") gründete und auch nach 1989 einer der kraftvollsten und geistsprühendsten Improvisatoren der deutschen Szene geblieben ist. Bauer erhielt den Preis für sein Lebenswerk, das, wie sein Laudator, der Publizist Bert Noglik, anmerkte, noch immer ein "work in progress" ist. Und welche Art von immer noch weitergehender Entwicklung da vorliegt, konnte man im Konzert von Conny Bauers Trio zusammen mit den beiden amerikanischen Kollegen Hamid Drake am Schlagzeug und William Parker am Kontrabass erleben. Die Drei spielten eine improvisierte Musik von inniger Vehemenz: eine Kammermusik der vielen feinen Nuancen in der Kommunikation untereinander, in der Motive aufblühten und vielfarbig miteinander verschmolzen. Das war eine sich frei bewegende Musik voller innig melodiöser Momente und voller Wärme. Zu bestaunen war da bei allen drei Instrumentalisten Vieles, beim Preisträger besonders seine Klangvielfalt vom warmen, energiegeladenen Strömen bis zum schattenhaft Leisen – immer getragen von sinnlichen melodischen Linien. Dieses Konzert war unbedingt ein Highlight des Festivals.
Bildquelle: Jazzfest Berlin 2023/ Peter Gannushkin Direkt davor hatte die französische Komponistin und Pianistin Eve Risser mit ihrem 12-köpfigen Red Desert Orchestra westafrikanische Musik und europäischen Jazz so stimmig und lustvoll auf einen Nenner gebracht, dass das Publikum im Saal jubelte. Klavier, E-Gitarre, Saxophone, Trompete, Posaune, zwei Balafone (westafrikanische Varianten des Xylophons) sowie Schlagzeug und Percussion-Instrumente fanden da zu lustvollem Groove und musikantisch packenden Momenten. Eine Musik, die vermutlich bei jedem Festivalpublikum schnell Glücksgefühle auslöst. Eve Risser verband ihr Konzert auch mit einer Botschaft: Statt jetzt viele Worte über Kriege zu sprechen, spiele sie mit dem Orchestra lieber ein Stück, dessen Titel übersetzt "Love" bedeute. Die Botschaft kam ohne Umschweife an.
Bildquelle: Berliner Festspiele/ Camille Blake Neben dem Stück "Apparitions", das die 30 Kinder einbezog, gab es noch eine weitere ehrgeizige Festival-Produktion: Der aus Chicago stammende und seit langem in New York lebende Komponist und Saxophonist Henry Threadgill (79) schrieb ein Stück für sein eigenes Ensemble Zooid und die Berliner Gruppe Potsa Lotsa XL um Saxophonistin Silke Eberhard. "Simply Existing Sufraces" hieß das rund einstündige Stück, das die beiden zusammengespannten Ensembles (insgesamt 15 Musiker:innen) mehrere Tage miteinander probten und am Festival-Samstag uraufführten. Es bot komplexe Musik, in der in jedem Takt das Metrum wechselte und die Musiker sehr ausgefuchste Themen zu spielen hatten, letzten Endes ein Brocken E-Musik für ein Jazz-Orchester. Aber: Unter der Leitung der Dirigentin Silke Lange und Henry Threadgills selbst, der mit Hut und dicker Brille vorne links in der Saxophongruppe saß und die meiste Zeit hoch aufmerksam lauschte, wurde daraus ein Stück, das in keinem Moment nach Papier klang, sondern nach elastisch groovendem, erdigen Jazz. Threadgill spielte selbst nur selten, hatte nicht mehr Soli als andere, und zeigte, als er an der Reihe war, auf dem Altsaxophon einen rau-expressiv klagenden Ton von schillernder Strahlkraft. Die Komposition hatte Raum für viele Solo-Inseln, die etwa Gitarrist Liberty Ellman, Tenorsaxophonist Patrick Braun, Klarinettist Jürgen Kupke oder auch der hier ein fünfsaitiges Cello mit Bünden spielende Bassist Johannes Fink für profilierte Klang-Momente nutzten. Komponist Henry Threadgill dankte dem Publikum am Ende mit Kusshand.
Viel Raum hatte bei diesem Festival der Free Jazz: jene Spielart, die von Nicht-Spezialisten gern gefürchtet wird, obwohl man sie mit den naivsten Ohren hören und genießen kann – weil Free Jazz im Idealfall auch für Zuhörende keine Regeln aufstellt. Der englische Gitarrist Fred Frith ist eine berühmte Gestalt der frei improvisierten Musik: einer jener Klang-Erfinder, die auch mal mit einem Malerpinsel über die Saiten streichen, sie mit Metallstäben antupfen oder Schnüre unter den Saiten hindurchziehen, um unerwartete Klang-Effekte zu erzeugen. Er traf beim Jazzfest mit der Trompeterin Susana Santos Silva und der Schlagzeugerin Maria Portugal zusammen: für ein Gastspiel, das zu den besonders leisen und poetischen des Festivals gehörte. Ruhige Klang-Erkundungen von Dreien, die ganz genau zuhörten und sich dem Moment überließen.
Bildquelle: Jazzfest Berlin 2023/ Peter_Gannushkin Einst in der Gruppe des Free-Jazz-Pianisten Cecil Taylor war der Schlagzeuger Andrew Cyrille vor Jahrzehnten zum ersten Mal zum Jazzfest Berlin gekommen. Jetzt ist er 83, und er gastierte zusammen mit dem Tenorsaxophonisten Bill McHenry (51). Ihr gemeinsames Programm "Proximity" enthielt auch Stücke der Chicago-Avantgardisten (und Henry-Threadgill-Kollegen) Muhal Richards Abrams und Don Moye – und zeichnete sich durch eine ganz hohe musikalische Disziplin des Miteinanders aus. Ganz weiche rhythmische Grundierungen durch das Schlagzeug – und ungemein klare, so kraftvolle wie fein schattierte Linien vom Saxophon. Eines jener Konzerte, die einfach nur durch besonders sorgfältig gesetzte Töne bestachen – und die dem Publikum so innig und bescheiden Respekt zollten wie beim selben Festival es etwa auch das Duo Alexander von Schlippenbach/Aki Takase sowie Preisträger Conny Bauer und seine Kollegen taten. Andrew Cyrille bat das Publikum am Ende darum, dass es auch sich selbst beklatsche. Denn: "What would we do without you!" Seine kurze, freundliche Ansprache an das volle Haus nach dem Konzert betonte, wie besonders es sei, eine so gute Zeit miteinander zu verbringen, wie es bei Kulturveranstaltungen wie dem Jazzfest Berlin möglich sei.
Mögliche Erkenntnisse dieses Jazzfest-Jahrgangs: Jazz ist vielfarbig, kann so viele Gestalten und Stimmungen annehmen, wie es Individuen gibt, wirkt unabhängig vom Alter der Protagonist:innen jung und kommunikativ, wenn er nur ganz und gar im Augenblick aufgeht. Egal, wie man ihn nennt, ob "Jazz" oder "improvisierte Musik" oder vielleicht überhaupt nur "Musik": Er kann in seiner Unmittelbarkeit eine enorme Erlebnis-Dichte schaffen. Im nächsten Jahr geht es bei diesem Festival mit einer besonders aufwändigen Ausgabe wieder unter der Leitung der umtriebigen Kulturmanagerin Nadin Deventer weiter. Dann wird explizit Jubiläum gefeiert; unter dem Arbeitstitel Jazzfest Berlin 1964/2024 werden jetzt schon die Konzepte dafür geschmiedet.
Kommentare (1)
Montag, 06.November, 19:35 Uhr
fristra
Nach vier Tagen intensiven Hörens
Meine Frau und ich besuchen die damaligen Jazztage und das heutige Jazzfest Berlins seit 1974. Damals dominierten noch die "Jazz-Legenden". Heute ist es zunehmend schwierig, sich im Dickicht der oft unbekannten Namen zurechtzufinden. So gesehen wählten wir in diesem Jahr vieles in unserem Sinne richtig aus, z.B. das unglaublich packende, fantastische Trio der Ingrid Laubrock im A-Trane, unser persönlicher Höhepunkt des gesamten Festivals. Fabelhaft. Gleichzeitig Schlippenbach-Takase, das schmerzte. Man kann sich nicht zweiteilen. Heftiger Dissens bezüglich der Wertung der grundlangweiligen Threadgill-Auftragskomposition und des Fred Frith-Beitrags. Das sah aus wie eine Gitarrenreparatur am Schoß. Musikalischer Dekonstruktivismus, der zu nichts führt. Die fabelhafte Susana Santos Silva wurde da nur verheizt, um umso strahlender bei Eve Risser zu glänzen. Insgesamt ein lohnender Jahrgang mit vielen starken Konzerten.