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Kritik – KI-Oper "chasing waterfalls" in Dresden Künstliche Intelligenz steuert virtuelle Stimme

Was macht die digitale Welt mit unserer Identität? Mit dieser Frage befasst sich die KI-Oper "chasing waterfalls", die am Samstag an der Dresdner Semperoper uraufgeführt wurde. Eine virtuelle Stimme kommt hier erstmals zum Einsatz, für jede Aufführung werden Algorithmen neu generiert. Konnte Künstliche Intelligenz auf der Opernbühne überzeugen?

Eir Inderhaug (Reales Ich/Virtuelles Ich) | Bildquelle: Semperoper Dresden/Ludwig Olah

Bildquelle: Semperoper Dresden/Ludwig Olah

Es beginnt mit dem Versagen der Gesichtserkennung. Eine Frau möchte sich in ein Netzwerk einwählen, aber das System zweifelt an ihrer Identität. Sicherheitsabfragen führen ein groteskes Eigenleben, erst nach einem Wutanfall gestattet der Algorithmus den Zugang. Dieses "Computer says no" hat wohl jeder schon mal erlebt, der sich in der digitalen Welt bewegt. Plötzlich wird der Protagonistin von "chasing waterfalls" klar, wie abhängig sie von einer undurchschaubaren Welt ist, in der auch die kompliziertesten Sachverhalte in 0 und 1 aufgespalten werden. In der vermeintlich oder tatsächlich intelligente Computer entscheiden, wie wir uns verhalten. Die namenlose Frau wird vom System eingesogen, das "Reale Ich" hat eine Doppelgängerin im "Virtuellen Ich" und begegnet sechs verschiedenen "Ego fluens", mit denen sie sich auseinandersetzen muss.

Künstliche Intelligenz übernimmt

Die Grenzen zwischen Filmprojektion und Bühnengeschehen, Computergeflimmer und Wasserrauschen verschwimmen auf der Bühne der Dresdner Staatsoper. Sechs Sängerinnen und Sänger und die Artificial Intelligence eines eigens trainierten Computers reagieren aufeinander. Etwa sieben Minuten Musik werden vom Rechner an jedem Aufführungsabend neu getextet, komponiert und gesungen. In der fünften Szene der 70-minütigen Oper übernimmt die Künstliche Intelligenz und räsoniert darüber, ob sie lebt, ob sie ein Bewusstsein hat und was sie unternehmen würde, wenn sie ein Lebewesen wäre.

Anspielungen an Richard Wagner

Eir Inderhaug (Reales Ich/Virtuelles Ich), Jessica Harper (Schein, Ego fluens), Julia Mintzer (Glück, Ego fluens), Tania Lorenzo (Kind, Ego fluens), Simeon Esper (Zweifel, Ego fluens), Sebastian Wartig (Erfolg, Ego fluens) | Bildquelle: Semperoper Dresden/Ludwig Olah Szene aus "chasing waterfalls" an der Semperoper in Dresden | Bildquelle: Semperoper Dresden/Ludwig Olah Ähnlich gruselig müssen es die Zeitgenossen der Dresdner Romantiker erlebt haben, wenn E.T.A. Hoffmann über Spukwesen und Doppelgänger schrieb, die das Bewusstsein seiner Protagonisten manipulieren oder gleich ganz übernehmen. Die Schriftstellerin Christiane Neudecker hat für das Libretto ebenfalls die Künstliche Intelligenz um Rat gefragt. Herausgekommen ist eine anspielungsreiche Reminiszenz an Richard Wagners Alliterationen mit deutlichen Bezügen zur Liebesnacht aus "Tristan und Isolde". Auch in dieser Oper geht es um die Auflösung von Identität, das Verschwimmen der Grenzen zwischen "Ich" und "Du", um den Bedeutungsverlust der umgebenden Gesellschaft.

Livemusik mit Elektronik ergänzt

Dazu hat der Komponist Angus Lee eine Musik komponiert, die von neun Musikern und Musikerinnen im Orchestergraben gespielt und mit elektronischen Klängen des Kollektivs "kling klang klong" ergänzt wird. Erdacht hat sich das ganze Projekt das Künstlerkollektiv phase7 performing.arts Berlin, federführend waren der Regisseur Sven Sören Beyer, der Dramaturg Johann Casimir Eule und Christiane Neudecker. Die Liste der Mitwirkenden hinter den Kulissen ist bedeutend länger und spricht für die vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Beteiligten, dass ein sehr geglücktes Opernexperiment auf die Bühne kam.

"chasing waterfalls" – modernes Gesamtkunstwerk

Julia Mintzer (Glück, Ego fluens), Eir Inderhaug (Reales Ich/Virtuelles Ich), Tania Lorenzo (Kind, Ego fluens), Simeon Esper (Zweifel, Ego fluens) | Bildquelle: Semperoper Dresden/Ludwig Olah Szene aus "chasing waterfalls" an der Semperoper in Dresden | Bildquelle: Semperoper Dresden/Ludwig Olah Unter der musikalischen Leitung des Komponisten Angus Lee entsteht eine sehr eigenwillige Klangwelt zwischen klassischer Oper und Surroundsound, die den prunkvollen Zuschauerraum der Semperoper erfüllt. Traditionsbewusst bewegt er sich dabei in tonal anschlussfähigen Bereichen, die eine Verschmelzung mit den mal unheimlichen, mal entspannungsfördernden elektronischen Klängen. In Verbindung mit den aufwendigen Projektionen und dem Bühnengeschehen auf einer hohen Treppenanlage, die sich schließlich mit sehr viel Wasser aus dem Bühnenhimmel in den titelgebenden Wasserfall verwandelt, entsteht eine moderne Version des romantischen Gesamtkunstwerks, das den Zuschauer umgibt und einsaugt. Ebenso wie die mal dunkel lockenden, mal verführerisch glitzernden virtuellen Welten den User in ihren Bann ziehen.

Sopranistin vs. Algorithmus

Die Sopranistin Eir Inderhaug setzt sich zur Wehr gegen die Algorithmen, mal verzweifelt schneidig, mal charmant lockend. Aber trotz ihres Behauptungswillens bleibt unentschieden, ob es überhaupt ein Entrinnen geben kann. Hate Speech und scheinbarer Erfolg, der in Klicks und Likes gemessen wird, wechseln sich ab und schicken die Protagonistin in Gestalt eines perfekt aufeinander abgestimmten Gesangsquintett in ein Wechselbad der Gefühle. Ihr Trotz und ihr Selbstbehauptungswille sind zum Schluss jedenfalls geweckt.

Sendung: "Allegro" am 5. September 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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