Seit Beginn der Pandemie steht das Chorsingen unter Verdacht: Die Infektionsgefahr soll hier besonders hoch sein. Bei einigen Chören, die zu Beginn der Coronakrise noch probten, kam es zu regelrechten Masseninfektionen. Seit Monaten wird dazu geforscht. Und das auch im BR-Funkhaus. Zusammen mit Mitgliedern des BR-Chores untersuchten dort Wissenschaftler in den letzten Wochen die Ausbreitung von Aerosolen beim Singen. Erste Zwischenergebnisse liegen nun vor.
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Bildquelle: BR/Gut zu wissen
Seit dem 22. Juni sind Chorproben in Bayern wieder erlaubt. Natürlich nur unter strengen Hygieneauflagen. Dazu zählen etwa regelmäßiges Lüften und ein Abstand von mindestens zwei Metern zwischen Sängerinnen und Sängern. In seinen Empfehlungen konnte sich das Bayerische Kunst-Ministerium bereits auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen. So hatte eine Studie der Bundeswehr-Universität in München schon im Mai gezeigt, dass beim Singen nur im Bereich von etwa einem halben Meter Luftturbulenzen entstehen. Die These des Studienleiters damals: Die Infektionsgefahr beim Singen sei nicht wesentlich größer als beim Sprechen.
Ein so erleichterndes wie verwirrendes Ergebnis. Denn einerseits blieben damit die Fälle von Masseninfektionen bei Chorproben unerklärt. Zum anderen schienen diese Erkenntnisse den Vorgaben der Berufsgenossenschaft zu widersprechen, die - restriktiver noch als die Bayerische Staatsregierung - Abstände von bis zu sechs Metern zwischen Sängerinnen und Sängern einfordert.
Hierzu ist in Singrichtung ein Abstand von mindestens 6 m und seitlich von mindestens 3 m einzuhalten.
Mehr Klarheit bringt nun eine Studie der LMU München und der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. In einer Reihe von Experimenten haben der Stimmarzt Matthias Echternach und der Strömungsmechaniker Stefan Kniesburges versucht, die Ausbreitung von Aerosolen beim Singen direkt sichtbar zu machen.
Kurz: Atemnebel mit Tröpfchen. Die Langfassung: Aerosole sind winzigste Speicheltröpfchen, die kleiner als fünf Mikrometer sind. Sie gelangen beim Ausatmen in die Luft und können dort für eine gewisse Zeit schweben.
Unterstützt wurden sie dabei von Sängerinnen und Sängern des BR-Chores. Von den Studienergebnissen versprechen diese sich ein positives Signal in Richtung baldiger Konzerte. Oder besser gesagt: erhoffen – wie die Altistin Kerstin Rosenfeldt: "Natürlich würde ich mir wünschen, dass was Gutes dabei rauskommt, dass wir bald wieder singen dürfen. Aber mir ist auch klar, dass beim Singen, beim Sprechen Aerosolwolken entstehen. Und ich finde es wichtig, dass es jetzt mal wissenschaftlich untersucht wird."
Neben den berüchtigten Aerosolwolken haben Echternach und Kniesburges auch die Ausbreitung eines weiteren potentiellen Überträgers untersucht: größere Spucketröpfchen wie sie etwa beim Sprechen entstehen. Im Laserlicht wurde die Streuung dieser Tröpfchen sichtbar gemacht und via Highspeed-Kamera aufgezeichnet. So konnten die Forscher analysieren, bei welchen Sprech- oder Gesangspassagen die größte Menge an Tröpfchen gebildet wird. Kniesburges‘ Fazit: "Bei den Vokalen haben wir kaum Tröpfchen sehen können, die da wirklich gebildet werden und herausgeschleudert werden, vereinzelt schon, aber in einer deutlich, deutlich geringeren Anzahl im Gegensatz zu den Konsonanten."
Um die sehr viel kleineren Partikel sichtbar zu machen, aus denen die Aerosolwolken bestehen, mussten die Wissenschaftler auf einen anderen Trick zurückgreifen: Rauchen. Zur Abwechslung mal im Dienste der Wissenschaft. Verwendet wurde dafür eine unbedenkliche Trägerlösung von E-Zigaretten. Erst inhalieren, dann singen, lautete die Anweisung an die Sängerinnen und Sänger. Die dabei entstehenden Nebelwolken wurden dann vermessen.
Entwarnung klingt anders. Abstand halten und Lüften – das sind auch dieser Studie zufolge die zwei wichtigsten Instrumente im Kampf gegen Corona. Masken helfen dagegen nur bedingt. Zwar halten sie die Ausbreitung der größeren Tröpfchen auf, nicht aber den Aerosolnebel. Der quillt an den Rändern der Maske ins Freie. Auch das konnten die Forscher beobachten. Fazit: Die bestehenden Abstandsregeln des Kunst-Ministeriums sind sicher nicht zu großzügig bemessen.
Trotz dieser alles in allem eher ernüchternden Erkenntnisse – Susanne Vongries, Managerin des BR-Chores, kann der Untersuchung auch etwas Positives abgewinnen: "Die Studie gibt uns mehr Klarheit, um Abstandsregeln und Klimaverhältnisse in Räumen besser einschätzen zu können. Und wir möchten unsere Erkenntnisse allen zur Verfügung stellen. Die Ergebnisse werden und sollen nicht nur dem BR-Chor hilfreich sein. Bei Profichören im Konzert- und Opernbereich sowie im Laienchorsingen besteht weltweit ein großer Wissens- und Erkenntnishunger auf diesem Gebiet."
Diesen Erkenntnishunger dürfte jedoch auch die neue Studie noch nicht gänzlich gestillt haben. Sie ist lediglich ein Puzzleteil, um die Infektionsgefahr beim Chorsingen besser einschätzen zu können. Echternach und Kniesburges konzentrieren sich auf die Ausbreitung der Aerosole vom Mund in den Raum. Nicht untersucht wurde zum Beispiel, wie viel Aerosol beim Singen gebildet wird. Oder in welchen Konzentrationen sich Aerosolwolken in gelüfteten und ungelüfteten Räumen ansammeln. Und auch nicht, inwieweit das tiefe Luftholen beim Singen die Wahrscheinlichkeit erhöht sich anzustecken. Klärungsbedarf besteht hier also nach wie vor.
Sendung: Leporello am 3. Juli 2020 um 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK