Vergangene Woche hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Eilantrag der Initiative "Aufstehen für die Kunst" abgelehnt. Nun zieht die Gruppe vor das Verfassungsgericht. Einer ihrer prominenten Mitstreiter: Christian Gerhaher. Der Bariton übt im BR-KLASSIK-Interview heftige Kritik an der Politik und zeigt Verständnis für die Schauspieler-Aktion #allesdichtmachen.
BR-KLASSIK: Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat den Eilantrag der Initiative "Aufstehen für die Kunst" gegen die Schließung von Kultureinrichtungen abgelehnt. Nun ziehen Sie vors Bundesverfassungsgericht. Warum?
Christian Gerhaher: Uns beschäftigt und beunruhigt, dass unser Argumentationsstrang überhaupt nicht aufgegriffen wurde, nämlich, dass die Theater, die Opernhäuser, die Konzertsäle mit sehr vielen Studien belegtermaßen argumentieren können, dass sie eine sehr geringe Infektionsgefahr für mögliche Besucher darstellen. Es wurde sogar gesagt, dass dieses Argument für den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof nicht zählt, weil die Studien nicht abgeschlossen seien. Nun sind es aber sehr viele Studien, die schon während ihrer nicht abgeschlossenen Phase darauf hindeuten, dass keine größere Infektionsquelle in den Theatern und Opernhäusern vorhanden ist. Und es gibt auch eine Studie, die von der Bayerischen Staatsoper selbst finanziert und von der TU München durchgeführt wurde – die ist tatsächlich abgeschlossen, und die Ergebnisse sind eigentlich insgesamt eindeutig.
Die Interpretation des Verfassungsartikels muss neu geregelt werden
BR-KLASSIK: Das heißt, jetzt mal ganz einfach formuliert: Sie, Herr Gerhaher, haben ja durchaus die Erlaubnis, weiterhin zuhause zu singen. Dabei ist völlig egal, ob jemand zuhört oder nicht. Kann man das so überspitzt formulieren? Sie haben kein Recht darauf, dass irgendjemand Ihnen zuhört.
Christian Gerhaher: Es ist absurd, zu sagen, Sie können Ihre Kunst zuhause machen. Kunst braucht immer Kommunikation, sonst ist es keine. Wenn ein Pfarrer eine Messe hält, ohne dass ihm ein Gläubiger zuhört, dann ist sie es auch keine Messe.
Es ist für die Veranstalter die größte Not.
BR-KLASSIK: Kulturorte sind auch Begegnungsstätten. Ist für Sie Kultur auch so eine Art Kitt der Gesellschaft?
Christian Gerhaher: Es kann einfach nicht sein, dass eine Gesellschaft ohne Kultur ist. Die darstellenden Künste wurden de facto im November abgeschafft. Davor war im Grunde auch nicht viel los, weil ja Sommerpause war, davor der erste Lockdown. Also wir sind eigentlich seit über einem Jahr am Boden.
Wir lernen nicht nur aus dem Stalinismus, sondern auch aus dem Nationalsozialismus, dass die Kunst frei sein muss
Ganz verheerend war dieser Definitionsversuch in den Papieren des "Lockdown light". Da wurde diese Art von Kultur von Herrn Söder als Unterhaltungsmittel und Erbauungsmittel beschrieben. Das geht nicht einher mit der notwendigen Freiheit der Künste, die im Artikel 5 des Grundgesetzes niedergelegt ist. Denn sobald ein Politiker sagt, die Kunst ist Freizeitaktivität, Unterhaltungsmedium, Erbauungsmedium – dann wird Kunst instrumentalisiert. Und wie sehr Kunst instrumentalisiert werden kann, haben wir im Zwanzigsten Jahrhundert genügend gelernt. Wir lernen nicht nur aus dem Stalinismus, sondern auch aus dem Nationalsozialismus und allen möglichen totalitären Regimen, dass die Kunst frei sein muss und nicht in ihrem Zweck definiert werden kann. Das ist etwas, was die Politiker jetzt ganz schnell bitte einsehen müssen.
BR-KLASSIK: Unlängst wurden die Spielorte für die Fußball-Europameisterschaft in diesem Sommer vergeben. München konnte punkten, 14.000 Fans dürfen rein ins Stadion – natürlich nur, wenn die Corona-Zahlen stimmen. Ärgert Sie das?
Ich bin kein Verschwörungstheoretiker.
Es wirkt so, dass man fast paranoid fragen muss: Gibt es etwas, das uns besonders eklig macht? Dass man sagt, wir wollen diese Künste nicht? Ich glaube es natürlich nicht. Ich bin kein Verschwörungstheoretiker, und paranoid bin ich auch nicht. Aber Haltung und Handlungsweise der Politik sind nicht mehr verständlich.
BR-KLASSIK: Gerade in den letzten zwei Wochen hat man ja erlebt, dass ein Auf-sich-aufmerksam-Machen, wie es die Schauspielerinnen und Schauspieler mit der Aktion #allesdichtmachen versucht haben, ganz schön nach hinten losgehen kann.
Kann man überhaupt nicht mehr mit Differenzierung rechnen in dieser Gesellschaft?
Was ist denn das? Das sind Künstler, die sich äußern. Kann man überhaupt nicht mehr mit Differenzierung rechnen in dieser Gesellschaft? Ich finde es haarsträubend. Ich bin auch nicht mit jedem Clip einverstanden. Aber die sind ja wirklich noch von der Meinungsfreiheit und von der künstlerischen Freiheit gedeckt. Und das alles ist vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass die Künste einfach schon zu lang aus unserer Gesellschaft entfernt worden sind. Ich kann nur appellieren, dass die Politiker ihre Handlungen und ihre Gesetze hier noch mal wirklich überdenken, dass sie sagen, die Kultur ist für unser Land jetzt wirklich wichtiger. Zumal, da sie laut Studien so ungefährlich ist.
Sendung: "Leporello" am 3. Mai 2021 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK