299 Lieder – warum wagt man sich überhaupt an so ein Mammut-Projekt heran? Was hat Dietrich Fischer-Dieskau damit zu tun? Und was würde Christian Gerhaher tun, wenn er Robert Schumann persönlich treffen könnte? Der Bariton antwortet.
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Ich habe mich auf diese Reise gemacht, weil ich empfinde, dass das Lied-Werk Schumanns herausragend ist. Es ist vielleicht der Gipfelpunkt der Lied-Romantik. Schubert hat die Gattung "Lied" im Grunde erfunden und es wird nicht am Genie Schuberts gerüttelt, wenn man ein besonderes Faible für Schumann entwickelt. Es ist nur so, dass Schumann mir als Künstlerpersönlichkeit insgesamt besonders nahesteht und dass ich ihn als besonders faszinierend empfinde. Für mich ist Schumann DER Künstler schlechthin.
Also die Gesamteinspielung macht eigentlich Gerold Huber (lacht). Und ich singe vieles, aber nicht alles. Es gibt ja einige Frauenlieder, es gibt einige Ensembles: Spanische Liebeslieder Op. 138, Minnespiel Op. 101, Liebesfrühling mit Texten von Rückert, die Schumann und seine Frau Clara zusammen komponiert haben. Da sind einige duettartige Stücke drin. Und da kommen wir gleich an eine problematische Grenze des gesamten Projektes, denn Duette, Terzette, Quartette – ich finde, sobald zwei Stimmen gleichzeitig erklingen, ist das Wesen des Liedes schlagartig entfernt. Es ist kein Lied mehr. Aber: Schumann hat nun mal eben auch einige Duette eingebaut. Man muss sich da einfach der Tatsache beugen, dass es auch Ensembles gibt. Insofern haben wir uns entschieden, das alles reinzunehmen – zusammen mit befreundeten Sängerinnen und Sängern.
Was Gerold Huber und ich uns vorgenommen haben, ist: kein Lied aufzunehmen, ohne es im Konzert erfahren und ersungen zu haben. Weil ich so viele Dinge erst auf dem Podium in der Aufführungssituation begriffen habe. Es ist nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine sinnliche Komponente, weil man ja nicht nur mit dem Kopf singt, sondern auch mit dem ganzen Körper. Und in guten Stunden, bei besonders schönen Aufführungen ist es auch das, was einem das Singen so wertvoll macht. Dass man eben erfährt: Hier ist eine Idee, die sich sinnlich begreifen lässt. Dieses Zusammenkommen hat etwas Ganzheitliches, etwas, was einen fast umhaut. Und diese sinnliche Erfahrung hat allerdings immer auch mit Geist zu tun. Musik ist hochgeistig. Und das ist etwas, das fantastisch ist - noch dazu in Verbindung mit dem Wort!
Schumanns zwei Liederjahre sind durchaus unterschiedlich. 1840 sind mehr die populären Lieder entstanden. Es sind auch die meisten Lieder - er hat gleich 150 auf einen Schlag komponiert. Und alles Meisterwerke. 1850 sind die Lieder nicht mehr so populär, aber sie sind besonders interessant, besonders tiefgründig.
Gerold Huber und ich wollen mit dieser Gesamtaufnahme unsere Auffassung zum Ausdruck bringen, dass fast alle Werkgruppen von Schumann-Liedern zyklischen Charakter haben. Es ist etwas, was man früher nicht unbedingt angenommen hat. Lange Zeit dachte man, die großen Zyklen sind der Liederkreis nach Eichendorff, die Dichterliebe, die Kerner-Leder, Frauenliebe und Leben und der kleine Heine-Zyklus Op. 24. Gerold Huber und ich haben aber durchs lange Studium und lange Aufführungspraxis immer mehr begriffen, dass fast alle kleineren Lied-Gruppen von Schumann einen zyklischen Charakter haben.
Beim zyklischen Begriff in der Liedkunst denkt man oft an eine Geschichte, die erzählt wird. Das alleine mit dem zyklischen Gedanken in Verbindung zu bringen, finde ich aber nicht richtig. Also die Geschichte ist es nicht, was einen Zyklus ausmacht. Das Wichtige ist, einen Gesamtzusammenhang zu sehen und der kann sehr unterschiedlich sein. Es ist eher nachrangig, ob ein Zyklus erzählend ist. Dieses Zyklische hat bei Schumann unglaublich viele Facetten.
Als Student und Bewunderer Dietrich Fischer-Dieskaus ist mir natürlich seit langem bekannt, dass man den Ehrgeiz entwickeln kann, Gesamtwerke von Liedkomponisten aufzunehmen. Das hat Fischer-Dieskau mehrfach getan: bei Schubert, bei Brahms, bei Mahler, bei Strauss, bei Schumann. Also es gibt ganz viel Arbeit, die Fischer-Dieskau da geleistet hat. Ich kann mir das heutzutage gar nicht mehr vorstellen, ich könnte es nicht. Und ehrlich gesagt, ich würde es auch nicht wollen - außer bei Schumann. Nun könnte man sagen: Fischer-Dieskau hat ja schon so etwas wie fast eine Gesamtaufnahme der Schumann-Lieder vorgelegt. Aber diesen zyklischen Charakter hat er in seiner Aufnahme nicht berücksichtigt. Vielleicht war ihm das nicht wichtig.
Für mich ist es ganz unerlässlich. Ich würde sonst keine Schumann-Gesamtaufnahme machen wollen. Gerold Huber und ich haben vor etwa 30 Jahren damit begonnen, uns mit Schumann zu beschäftigen, seine Lieder kennenzulernen. Schumann war immer unser zentraler Komponist. Insofern ist es für uns so etwas wie eine konsequente Angelegenheit, dieses Werk so festzuhalten. Was wir allerdings nicht mehr vorhaben, ist noch weitere große Lied-Gesamtaufnahmen zu stemmen. Ich glaube, unsere Sehnsucht ist mit diesem Komponisten ausgereizt.
Ich weiß ja nicht, wer Schumann war. Ob er überhaupt mit mir ein Wort geredet hätte. Und man sagt ja, vor allem in seinen schwierigen Zeiten muss er höchst unangenehm gewesen sein. Wenn man ihn traf, um konkret mit ihm über ein Projekt zu sprechen oder über eine Arbeit, die er zu verrichten hatte, dann konnte er stumm wie ein Fisch da sitzen und nichts sagen. Solche Begegnungen – da bin ich froh, dass ich die nicht in mein Gesamtbild von Schumann einbringen muss. Ich begreife ihn nur aus seinem Werk, wie ich es empfinde.
Seltsamerweise geht es mir so, dass ich bei Schumann jedes Lied großartig finde. Ich weiß nicht warum. So wie andere Wagnerianer sind, bin ich ein Schumannianer. Bei Schubert gibt es zum Beispiel schon Lieder, die ich nicht singen möchte, die mich nicht interessieren und denen ich auch nichts abgewinnen kann. Bei Schumann ist das anders. Das ist einfach mein persönliches Interesse. Und bei der Lebenszeit, die man zur Verfügung hat, muss man ja auch nicht alles machen, sondern kann sich darauf kaprizieren, was einem auch wirklich wichtig ist.