Jedes Jahr im Herbst wird ein kleiner Ort im Schwarzwald zur Pilgerstätte für Fans und Künstler der musikalische Avantgarde. Was haben die Donaueschinger Musiktage, was andere Festivals nicht haben? BR-KLASSIK hat drei Insider gefragt: Die BR-KLASSIK Redakteurin Kristin Amme, den Künstlerischen Leiter der Donaueschinger Musiktage Björn Gottstein und den Dirigenten Titus Engel.
Bildquelle: © Jose Antonio Orts /SWR
Wieso sind die Donaueschinger Musiktage für Sie wichtig?
Kristin Amme: Weil sie mir in geballter Form immer wieder die Ohren öffnen. 17 Uraufführungen in drei Tagen, dazu Klanginstallationen und Performances - wo erlebt man das schon? Mitten in der Einöde des Schwarzwalds passieren Dinge, die so skurril sind, dass Sie in der Realität des großstädtischen Konzertsaals keinen Platz haben. Das ist oft radikal, manchmal hoch verstörend und immer spannend, das ist die Musik unserer Zeit! Was ich dort auch gelernt habe: Wer sagt, Neue Musik sei nichts für ihn, der war noch nie bei den Donaueschinger Musiktagen.
Die Moderatorin Kristin Amme | Bildquelle: Birgit Hart Björn Gottstein: In Donaueschingen habe ich gelernt, mir die Frage zu stellen, wohin es gehen könnte mit der Neuen Musik. Dafür liebe ich dieses Festival bis heute.
Titus Engel: Die Donaueschinger Musiktage sind nach wie vor das Festival für zeitgenössische Musik in Deutschland. Alljährlich pilgern Fans und Fachpublikum nach Donaueschingen, um das Neueste zu hören, ästhetische Debatten zu führen und über Musik und Gesellschaft nachzudenken. Ein Teil dieses Festivals zu sein ist für mich eine große Ehre.
Weshalb lohnt sich der Festivaljahrgang 2016?
Kristin Amme: Es gibt keine Tabus. Das Programm reicht bis in den Techno und in die Popmusik hinein. Die Konzerte und Aktionen finden in Turnhallen, einer Unterkunft für Geflüchtete, im Rathaus, in der Stadthalle oder in der Kirche statt. Darauf freue ich mich wahnsinnig. Hier kommt alles zusammen: Pop und Avantgarde, tonal und atonal, leicht hörbare und strapaziöse Klangwelten, verschiedene Künste, KomponistInnen und Musikfans.
Björn Gottstein: Weil er wieder einmal unglaublich wild und vielseitig ist, von der Homer-Vertonung bis zum technoiden Laptop-Konzert.
Der Dirigent Titus Engel | Bildquelle: Kaupo Kikkas Titus Engel: Insbesondere natürlich wegen meinem Konzert mit dem Klangforum Wien und steamboat switzerland. Michael Wertmüller und Bernhard Gander haben auf meine Initiative zwei grandiose Stück für diese beiden Formationen geschrieben. Eines kann ich versprechen: Die Energie wird sprühen, die Funken werden fliegen. Im Programm haben wir außerdem eine wunderbare Uraufführung für Sopran und Ensemble von Rebecca Saunders, sie spürt der Bedeutung des Wortes "Skin" in allen Facetten nach. Sie ist eine große Könnerin für delikate Klänge, feinstens ausgehört und großem dramaturgischen Gespür.
Warum reizt Sie die Vermittlung von Neuer Musik?
Titus Engel: Für mich ist die zeitgenössische Musik Lebenselixier. Sie macht mir großen Spaß - ja, ich brauche diese neuen Klänge und Grooves, um meine Wahrnehmung immer mehr zu differenzieren. Die Neue Musik ist aber auch Spiegel unserer Gesellschaft. Neben aller Oberflächlichkeit in der Kulturindustrie gibt es das Bedürfnis nach Konzentration, Kontemplation und emotionalen Mitgerissensein. Das möchte ich unterstützen, gerade in der heutigen Zeit, die viel zu sehr von Populisten und Autokraten dominiert wird.
Der Künstlerischer Leiter Björn Gottstein | Bildquelle: SWR / Monika Maier Björn Gottstein: Weil man etwas weitergeben möchte von seiner Begeisterung. Und weil man aus eigener Erfahrung weiß, dass man manchmal Hilfe braucht beim ersten Kontakt mit der zeitgenössischen Tonkunst.
Kristin Amme: Was berührt mich? Was haben die Stücke mit mir und meinem Leben zu tun? Das sind Fragen, die sich beim Musikhören eigentlich von selbst stellen. Oft stehen bei der Neuen Musik aber andere Dinge im Vordergrund: Konzept, inhaltlicher Überbau, die schon fast zwanghafte Suche nach dem Neuen. Wir müssen den Kanal zu eigentlich selbstverständlichen Fragen (wieder) öffnen. Indem wir alltagsnahe und ganz unterschiedliche Hörerlebnisse ermöglichen. Indem wir zum Beispiel im Radio zeigen, wie vielfältig neue Musik ist. Und indem wir immer wieder auch den einen oder anderen Konzept-Batzen beiseiteschieben. Damit wir die Neue Musik im Konzertsaal oder an all den anderen Orten, an denen sie heute passiert - ob Gewächshäuser, Clubs oder Museen - erst einmal staunend zur Kenntnis nehmen können. Das strukturell-analytische Hören kommt dann von ganz alleine.
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Festival für Neue Musik
Vom 14. bis 16. Oktober 2016
In diesem Jahr haben die Donaueschinger Musiktage den englischsprachigen Raum im Blick.
An zehn Spielstätten finden 16 Konzerte und Klanginstallationen statt.
Es treten rund 208 MusikerInnen und 23 Komponisten und Klangkünstler auf.
Das Eröffnungs- und Abschlusskonzert sowie das Konzert des SWR Vokalensembles stehen im Webportal SWRClassic.de zum Abruf bereit.