Ein Konzert vor nur hundert Leuten! Am 10. Juli spielte Igor Levit mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Münchner Gasteig. Wie hat ihn die Corona-Krise verändert? Was können wir aus ihr lernen? Und wie steht es wirklich um den Rassismus im Klassikbetrieb? Darüber spricht der Pianist im Interview.
BR-KLASSIK: Die Zeit, in der Sie nur via Stream, auf Twitter und Instagram mit Ihrem Publikum kommunizieren konnten, ist vorüber. Hat sich das Gefühl, live zu spielen, dadurch verändert, sind Konzerte für Sie noch kostbarer geworden?
Igor Levit: Twitter bleibt natürlich essentieller Bestandteil meines Alltagslebens. Die Zeit, in der diese Plattformen der einzige Weg waren, hat das Konzert für mich nicht wertvoller gemacht, sondern grundsätzlich verändert. Und zwar bereichert, ohne Frage! Die Erfahrung der letzten Monate hat mich ein großes Stück weitergebracht und befreit. Im Grunde habe ich das gelebt, wovon ich seit Jahren geträumt habe: die Auflösung jeder musikalischen Hierarchie. All diese Grenzen, die wir in unserer Welt zu gern aufbauen: Was ist gute Musik, was nicht? Was gehört in welche Räume? Was gehört nicht dazu? Was darf man zusammenbringen? Ich finde diese Fragen in den allermeisten Fällen wahnsinnig langweilig ... Plötzlich konnte ich spielen, was ich wollte, wie ich wollte, wo ich wollte. Und von meinem Publikum kam mir ein enormes Vertrauen entgegen, für das ich auf ewig dankbar sein werde. Im Nachhinein betrachtet, war es eine wirklich einzigartige Zeit für mich!
BR-KLASSIK: Kann man davon etwas mitnehmen in den Konzertbetrieb? Müsste der sich nicht radikal verändern?
Ich muss den politischen Betrieb mal loben.
BR-KLASSIK: Hundert Leute dürfen Ihnen im Gasteig zuhören. 2400 passen rein. Gleichzeitig hat die Staatsregierung erlaubt, dass bis zu zweihundert Personen bei privaten Feierlichkeiten zusammenkommen dürfen. Das versteht keiner im Kulturbereich. Müssten die Künstler lauter werden?
Igor Levit: Zum einen: Ja, wir müssen lauter werden! Gleichzeitig: In diesem Fall muss ich etwas tun, was ich normalerweise nicht tue: den politischen Betrieb loben. Ich habe in diesen Monaten erlebt, wie nachsichtig, wie vorsichtig und auch empathisch die Politik herangegangen ist an unsere Welt, zumindest in Deutschland. Man muss immer kritisch auf die Entscheidung der Politik schauen, das ist erste Bürgerpflicht. Aber die Geschwindigkeit, mit der man selbständigen Künstlerinnen und Künstlern in Berlin geholfen hat, war erstaunlich. Ich habe nicht so viel Einblick hier nach Bayern, aber in Berlin mit Kultursenator Klaus Lederer, oder wenn ich nach Hamburg oder Baden-Württemberg schaue – da ist schon wirklich sehr, sehr viel Gutes passiert!
BR-KLASSIK: Das gilt vor allem im Vergleich zu anderen Ländern. Wir haben von Simon Rattle gehört, wie desaströs es in Großbritannien aussieht. Wir wissen aus Italien und Frankreich, dass es der Kultur dort wirklich an die Existenz geht. Aber nochmal mit Blick auf Deutschland: Müssten Sie und alle, die sich für Kunst interessieren, sich nicht eigentlich mehr zusammenschließen?
Igor Levit: Richtig, das ist die andere Realität. Da merken wir plötzlich: Aha, es scheint irgendwie Lebensbereiche zu geben, da ist die Coronakrise da, und andere, da wird getan, als wäre sie nicht da. Es ist mental wirklich anstrengend, in einem vollen Zug zu sitzen auf dem Weg in einen leeren Saal. Es ist wirklich schwierig, das auszuhalten. Das gebe ich unumwunden zu. Niemand von uns, niemand, der Verstand hat, verlangt, regelfrei und ohne Vorsicht sämtliche Konzertsäle zu öffnen. Es ist eben für alle – es sei denn, dir gehört Amazon – eine schwierige Zeit. Aber Transparenz und Erklärung für Entscheidungen müssen wir schon verlangen. Und daran fehlt es mir.
BR-KLASSIK: Wären Sie dabei, wenn es darum ginge, eine politische Organisation für die Interessen der Kunst zu gründen?
Igor Levit: Die Antwort ist ganz eindeutig: ja! Wir können nicht jetzt, mitten in der Krise, nach einer Vertretung, nach einer Lobby rufen, und uns in guten Zeiten irgendwie einen feuchten Dreck dafür interessieren, wie es den anderen gerade geht. Nennt es eine Gewerkschaft, nennt es anders – aber ja, ich bin absolut dafür, sich zu sich zu verbinden.
Es ist wunderschön, einfach zu spielen – egal vor wie vielen Menschen.
BR-KLASSIK: Sie haben gesagt, dass die Konzert-Erfahrung sich sehr stark verändert hat. Was ist da passiert?
Igor Levit: Nach dieser ganzen Zeit zuhause jetzt wieder in Konzertsäle zu gehen und Menschen zu erleben, das hat so etwas Verbindendes, Wertvolles für mich bekommen. Plötzlich habe ich gemerkt: Da sitzen vielleicht nur hundert, und nichts daran ist gut. Niemand weiß, wie man so wirtschaftlich überleben soll. Aber rein emotional: Da sitzen hundert – und es fühlt sich für mich an wie daheim, irgendwie leicht. Dieses Hamsterrad ist weg. Es geht um das Miteinander. Das spüre ich gerade ganz stark. Und das möchte ich auch beibehalten. Im Augenblick ist es pur. Und das fühlt sich wunderschön an: einfach zu spielen, egal wo und egal vor wie vielen Menschen.
BR-KLASSIK: Die Salzburger Festspiele sind ziemlich mutig. Die riskieren einiges, indem sie das Festival stattfinden lassen. Sie werden dort im August alle Beethoven-Sonaten spielen.
Igor Levit: Ja, das ist ein großes Geschenk. Ich bin den Festspielen sehr verbunden, auch dem Intendanten Markus Hinterhäuser. Es ist für mich – aber auch für die Musikwelt – psychologisch extrem wichtig, dass die Salzburger Festspiele stattfinden können. Klar, es ist ein Risiko. Es kann ein Risiko sein. Aber passieren kann auch dann etwas, wenn ich nur auf die Straße gehe. Und niemand dort geht mit dieser Pandemie leichtfertig um. Dass ich in Salzburg Beethoven spielen darf, empfinde ich schon als großes Geschenk.
BR-KLASSIK: Beethovens politische Botschaft ist wichtiger denn je. Wir erleben jetzt gerade eine große Diskussion um Rassismus, die auch Sie stark bewegt. Es gibt Leute, die sagen: Die klassische Musik ist ein Vorbild, Musikerinnen und Musiker unterschiedlicher Hautfarben spielen zusammen. Aber es gibt auch viele Stimmen, die sagen, dass es latenten oder auch manifesten Rassismus in der Klassikwelt gibt. Wie sehen Sie das?
Wir haben ein Problem mit systematischem Rassismus, ohne Frage. Es ist nicht immer so, dass sich der- oder diejenige durchsetzt, die oder der besonders gut spielt. Aber es wird nicht mehr so leicht hingenommen. Das finde ich großartig. Und es macht mich ziemlich optimistisch.
Die jetzige Studentengeneration ist viel engagierter als meine.
BR-KLASSIK: Was sind das für Erlebnisse, die Sie so optimistisch machen?
Igor Levit: Ich habe in der Musikhochschule eine Studentin kennengelernt: Sie ist lesbisch und geht sehr offen damit um. Und sie hat deswegen Diskriminierung erlebt, auch sexuelle Belästigung – verbal zumindest. Aber bei ihr hat das nicht dazu geführt, dass sie gebrochen ist. Sondern sie ist dreieinhalb Minuten später, ausgestattet mit ihrem Handy und ihrem Instagram-Account, rausgegangen und hat mitgeteilt, was ihr passiert ist. Und sie hat sich an die Hochschulleitung gewendet. Das erlebe ich gerade: Studenten, die sich in der Klimabewegung engagieren, die sich organisieren, die in Altersheime gehen und spielen, die proaktiv sind und die Menschen mitnehmen. Und das macht mich mehr als froh. Und wenn heute einer behauptet, die Klassik sei ja wenig engagiert, dann muss ich sagen: Ihr schaut auf die falschen Leute.
Freitag, 10. Juli 2020, 20 Uhr
Philharmonie im Gasteig, München
Ludwig van Beethoven: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 B-Dur op. 19
Wolfgang Amadeus Mozart: Symphonie Nr. 38 D-Dur KV 504 "Prager"
Franz Welser-Möst, Dirigent
Igor Levit, Klavier
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Sendung: "Allegro" am 9. Juli 2020 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK