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Pierre Boulez im Interview "Ohne neue Erfahrungen langweile ich mich!"

Seinen kämpferischen, skeptischen Geist hatte er sich bis ins hohe Alter bewahrt: ein Gespräch mit Pierre Boulez vom September 2011 über seine unstillbare Neugierde, sein manchmal problematisches Verhältnis zum eigenen Werk sowie über die Risiken der Emotion beim Schaffensprozess.

Pierre Boulez beim Dirigieren | Bildquelle: Astrid Ackermann

Bildquelle: Astrid Ackermann

BR-KLASSIK: Monsieur Boulez, hoffentlich stören wir Sie nicht beim Arbeiten.

Pierre Boulez: Keine Angst, ich bin ein Nachtmensch. Ich kann viel besser komponieren, wenn es draußen dunkel ist.

BR-KLASSIK: Warum?

Pierre Boulez: Weil ich dann nichts sehe und höre, was mich stören könnte. Es reicht, dass ich einen Blick aus dem Fenster werfe und eine Landschaft vor mir sehe schon lässt meine Konzentration nach. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe die Natur, aber nicht während des Arbeitens.

BR-KLASSIK: Viele Menschen bringen Sie und Ihre Musik mit Kühle und Rationalismus in Verbindung. Ein Missverständnis?

Pierre Boulez: Musiker haben es nicht leicht. Geben sie die kleinste Erklärung zu ihren Stücken ab, sagen gleich alle, man sei zu logisch oder zu wenig emotional. Dabei ist Komponieren immer auch ein Denkprozess. Musik beruht auf Emotionen, das geht gar nicht anders, aber die Emotion muss kontrolliert aufs Papier gebracht werden. Musik ist organisierte Emotionalität. Wer sich ihr nur naiv und spontan nähert, wird sie nie ganz verstehen.

BR-KLASSIK: Viele Hörer reagieren körperlich auf besonders schöne Passagen. Kriegen Sie auch manchmal Gänsehaut beim Dirigieren?

Pierre Boulez: Das kommt selten vor. Wenn man ein Stück hundertmal gespielt hat, kennt man es in- und auswendig und kann nicht so tun, als wäre es neu.

BR-KLASSIK: Manche Musiker behaupten, sie entdecken auch beim hundertsten Mal noch aufregende Details.

Pierre Boulez: Das ist nur eine Entschuldigung dafür, keine neuen Stücke in Angriff nehmen zu müssen.

BR-KLASSIK: In seinem Essay "Paradox über den Schauspieler" sagt der französische Philosoph Denis Diderot, dass es problematisch sein kann, wenn ein Künstler zu emotional zu Werke geht. Warum?

Pierre Boulez: Weil die Emotion dann nicht ins Publikum übergehen kann, sie bleibt beim Dirigenten oder beim Musiker. Ist der Musiker aber kaltblütig und rational, kann die Emotion direkt in die Seelen der Menschen fließen. Ich habe das auch so erlebt.

BR-KLASSIK: Und wenn Sie selbst im Publikum sitzen . . .

Pierre Boulez: . . . bin ich nun mal kein normaler Zuhörer. Ich vergleiche bestimmte Stellen, achte auf Details, denke darüber nach, wie ich diese oder jene Passage dirigiert hätte. Ich bin Musiker, kein Musikliebhaber, ob ich will oder nicht.

BR-KLASSIK: Ihr Kollege Wolfgang Rihm hat mal gesagt, dass er in Ihrer Musik durchaus triebhafte Energie wahrnehme. Vielleicht ist die Struktur in Ihren Stücken ein Bollwerk gegen zu viel Gefühl?

Pierre Boulez: Ich kann nur die Musik schreiben, die mir einfällt. Meine Musik ist meine Sprache. Das ist kein kalkulierter Prozess. Natürlich muss ich mein Handwerkszeug beherrschen, der Rest ist schwer zu erklären.

BR-KLASSIK: Einverstanden. Aber was ist der Zweck des Komponierens, warum schreiben Sie Musik?

Pierre Boulez in der Master Klasse in Luzern | Bildquelle: picture-alliance/dpa Pierre Boulez in der Master-Klasse in Luzern | Bildquelle: picture-alliance/dpa Pierre Boulez: Um mich auszudrücken. Glauben Sie, dass ich beim Komponieren ans Publikum denke? Sicher nicht. Filmmusik soll bei den Zuschauern bestimmte Gefühle provozieren. Sie ist ein Mittel zum Zweck. Mit Ernster Musik ist das anders. Sie ist vergleichbar mit einer Sprache, die man lernen muss, vor allem aber muss man seine eigene Sprache finden. Wenn man jung ist, hat man viele Ideen. Je älter man wird, desto mehr achtet man auf Kohärenz, die Ideen müssen zusammenpassen, ein großes Ganzes ergeben.

BR-KLASSIK: Was hat in Ihnen überhaupt den Wunsch ausgelöst, Komponist zu werden?

Pierre Boulez: Zuerst habe ich nur ein bisschen Klavier gespielt, in meiner Familie hatte Musik keine große Bedeutung. Die Leidenschaft hat sich erst nach und nach entwickelt. Mit 16 habe ich dann gewusst, dass ich Musiker werden möchte. Ich habe begriffen, dass ich mich am besten musikalisch ausdrücken kann. Ich hatte kein Talent zum Malen oder Schreiben, die Auswahl war einfach.

BR-KLASSIK: 1940 besetzten die Deutschen Frankreich. Warum sind Sie nach dem Krieg trotzdem nach Deutschland gegangen?

Pierre Boulez: Am Ende hatten doch alle genug vom Krieg, die Franzosen genau wie die Deutschen. Und es war ja nicht so, dass ich in Deutschland nur mit Deutschen zu tun hatte. Wir waren Europäer, aus allen möglichen Ländern, und Deutschland war ein idealer Treffpunkt, weil es in der Mitte lag. Alle reden immer von der Darmstädter Schule, aber das war keine Schule, wir haben unsere Ideen und Standpunkte ausgetauscht, wir waren ein kleiner Club aus Italienern, Franzosen, Polen und Ungarn. Im Grunde haben wir die Europäische Union vorweggenommen.

BR-KLASSIK: Ende der Fünfzigerjahre kamen Sie mit der musica viva in Kontakt, die 1945 von Karl Amadeus Hartmann ins Leben gerufen worden war. Welche Erinnerungen haben Sie an ihn?

Pierre Boulez: Hartmann hatte den Ruf, dem Hitler-Regime äußerst kritisch gegenübergestanden zu haben. Wir haben ihn hoch geachtet, nicht nur wegen seiner musikalischen Leistungen, sondern auch wegen seiner Großzügigkeit und Moral. Was dieser Mann in München aufgebaut hat, ist fantastisch. Er hat nicht nur für eine elitäre Gruppe gearbeitet, er hat das Publikum zur zeitgenössischen Musik erzogen. Für Hartmann jedenfalls war die musica viva eine Lebensaufgabe. Er hat sein ganzes Denken, seine Energie, seine Seele in diese Sache gelegt. Umso mehr freue ich mich auf den neuen Künstlerischen Leiter Winrich Hopp, den ich sehr schätze. Er hat in Berlin sehr viel getan. Und er will unbedingt etwas erreichen.

BR-KLASSIK: Sie sind Komponist und Dirigent, aber sind Sie als Dirigent auch der beste Interpret für Ihre Kompositionen?

Pierre Boulez: Ob ich der beste bin, weiß ich nicht. Manchmal höre ich andere Dirigenten und denke mir: Das ist zu schnell, das zu langsam, das ist zu grob, das zu zart. Dann gehe ich nach Hause und frage mich, ob der Betreffende nicht doch recht hatte.

BR-KLASSIK: Sind der Komponist und der Dirigent Boulez auch Konkurrenten?

Pierre Boulez: Was die zeitliche Einteilung betrifft: ja. Zuerst wollte ich kein Dirigent sein, das ist nur so gekommen, weil es zu wenige Dirigenten gab, die zeitgenössische Musik dirigieren wollten, also haben wir es selbst gemacht. Aber Sie liegen schon richtig, der eine behindert den anderen auch. Oft steckte ich mitten in einer Komposition, als ich verreisen musste, um ein paar Konzerte zu dirigieren, danach sah ich meine Skizzen an und wusste nicht mehr, warum ich das so und so gemacht hatte.

BR-KLASSIK: Sie haben Ihr ganzes Leben gegen die Erstarrung des Repertoires und für die Akzeptanz von Neuer Musik gekämpft. Wenn Sie heute zurückschauen: Waren Sie erfolgreich?

Pierre Boulez: Der Kampf ist noch nicht zu Ende. Die Neue Musik ist akzeptiert, aber diese Akzeptanz ist nicht nur eine Frage des Publikums. Es gibt immer noch viele Musiker, die zu bequem sind. Wie viele Interpreten gibt es denn, die von neuen Kompositionen wirklich begeistert sind und sich die Mühe machen, sie zu verstehen, einzuüben und aufzuführen?

BR-KLASSIK: Haben Sie an sich selbst schon mal einen konservativen Zug entdeckt?

Pierre Boulez: Nein. Mich interessiert, wie junge Menschen denken, leben und komponieren. Ich kann mein Alter nicht leugnen, ich bin 86, aber den Austausch mit den jungen Leuten lasse ich mir nicht nehmen.

BR-KLASSIK: Diese ständige Neugierde, ist das eiserne Disziplin, oder können Sie nicht anders?

Pierre Boulez: Ich kann nicht anders, das ist keine Leistung. Wenn irgendwo etwas Neues aufgeführt wird, muss ich hin. Ohne neue Erfahrungen langweile ich mich. Ich bin in der Welt zu Hause, eigentlich überall, wo ich arbeiten kann. Ich kann und will nicht mein Leben lang im gleichen Haus vor mich hinleben.

BR-KLASSIK: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass zeitgenössische Malerei und Fotografie im Gegensatz zur Neuen Musik ein Millionenpublikum anlocken?

Pierre Boulez: Aber ja. Wenn mir ein Bild nicht gefällt, schaue ich es zwei Sekunden an und gehe weiter. Bei Musik bin ich an meinen Stuhl gefesselt, da habe ich lange Zeit, meinen Ärger zu pflegen. Klingt banal, ist aber nicht unwichtig.

BR-KLASSIK: Das ist alles?

Pierre Boulez: Es gibt noch andere Gründe. Zum Beispiel ist die aktuelle Malerei leichter verständlich. Sie spielt mit der Ästhetik eines Schaufensters oder einer Werbeanzeige. Im Grunde ist sie ziemlich reaktionär. Und dann geht es um Geld. Wie oft lese ich in der Zeitung, welchen Preis ein Gemälde auf einer Auktion erzielt hat, dabei wäre der Inhalt viel interessanter. Bilder sind Statussymbole geworden.

BR-KLASSIK: Früher wurden Sie als Vatermörder bezeichnet. Sie haben sich nicht nur gegen das Musik-Establishment gewendet, sondern auch gegen die älteren Vertreter der Moderne wie Schönberg und Strawinsky.  Was, wenn die Jungen Sie demnächst vom Thron stoßen?

Pierre Boulez: Davor habe ich keine Angst. Wenn meine Periode vorbei ist, ist sie vorbei, danach geht es weiter.

BR-KLASSIK: Wundern Sie sich, dass bisher kaum Rebellen gegen Sie aufbegehrt haben?

Pierre Boulez: Man kann das nicht vergleichen. Als ich ein junger Mann war, damals nach dem Krieg, war alles zerstört und musste neu aufgebaut werden.

BR-KLASSIK: Vielleicht ist es ja ein Problem, dass niemand Sie infrage stellt?

Pierre Boulez: Ich warte, dass es passiert, ich kann das nicht künstlich provozieren, das wäre dumm. Dann sagen alle: Schau mal, der organisiert seinen eigenen Umsturz. Aber ich bin bereit, wenn jemand kommt, der den Weg weiter- oder anders geht, kein Problem. So muss es sein, so ist es richtig.

BR-KLASSIK: Im Rahmen der Lucerne Festival Academy arbeiten Sie mit jungen Musikern und Komponisten. Was geben Sie ihnen mit?

Pierre Boulez: Dass sie ihren Standpunkt finden müssen, denn nur darum geht es. Ich kann sagen: Das ist gut, das ist weniger gut, aber meine Meinung ist nur meine Meinung. Wichtig ist, dass sie ihre eigene Meinung und ihre eigene Sprache finden.

BR-KLASSIK: In Ihrem Stück "Pli selon pli" wird die Entstehung eines Gedichts mit der Geburt eines Kindes verglichen. Sind Ihre Kompositionen Ihre Babys?

Pierre Boulez probt für das Konzert am 30.09. | Bildquelle: Astrid Ackermann Boulez bei der Probe zu "Pli selon pli" in München 2011 | Bildquelle: Astrid Ackermann Pierre Boulez: Das kann man schon so sagen. Aber ein Vater ist nie eine Mutter. Und als Komponist ist man Vater und Mutter zugleich. Der Vater, das sind die Ideen, die Mutter, das ist der organische Zusammenhang.

BR-KLASSIK: Lieben Sie Ihre Werke?

Pierre Boulez: Im Grunde schon, aber manchmal kann ich sie nicht leiden.

BR-KLASSIK: Warum?

Pierre Boulez: Weil ich manche Sachen besser hätte machen können. Wenn ich heute ein älteres Werk dirigiere, kann es schon vorkommen, dass ich mich ärgere.

BR-KLASSIK: Auch bei "Pli selon pli", das Sie bald in München aufführen werden?

Pierre Boulez: Auch da. Mit zwei Dritteln bin ich zufrieden, mit einem Drittel nicht. Das Stück stammt aus meinen Anfangsjahren. Damals konnte ich nicht kontinuierlich komponieren.

BR-KLASSIK: Bereitet Ihnen der Gedanke Freude, dass Ihre Stücke in hundert Jahren noch gehört werden könnten?

Pierre Boulez: Wenn es so ist, erlebe ich es nicht mehr. Und wenn es nicht so ist, trifft es mich nicht mehr. Man darf sich nicht so wichtig nehmen. Es geht darum, sein Bestes zu geben, seine Standpunkte zu vertreten und die Kunst weiterzuentwickeln.

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