Am 22. Juni 1923 nimmt King Oliver den "Sobbin‘ Blues" auf. Sein Schützling Louis Armstrong war bislang nie zuvor so lang, einprägsam und unüberhörbar in Erscheinung getreten wie in diesem Stück, und dies ausgerechnet mit einem Jux-Instrument.
Bildquelle: Archeophone Records
Die Melodie spielt Satchmo auf einem ungewöhnlichen Instrument: es ist eine slide whistle, bei uns bekannt als Lotus-, Kolben- oder Ziehflöte. Sie gilt eher als Kinderspielzeug. Da die Tonhöhe durch das Schieben eines Zugstabes im Resonanzkörper verändert wird, gelingen darauf bestens Glissandi, weswegen sie oft erklingt, wenn in Slapstickfilmen etwas hinabfällt oder nach oben geschleudert wird. Statt für solch komische Effekte nutzt Armstrong das Instrument für ein sehnsuchtstriefendes Thema. Es bedarf einiger Übung, darauf so ausdrucksvoll und intonationsrein zu spielen, wie er es fast eine halbe Minute lang tut. Ein Wunder, dass er die Lotusflöte nur extrem selten eingesetzt hat, so 1923 in "Buddy’s Habit" und 1926 in "Who`s It". Das Instrument, das Baby Dodds, dem Schlagzeuger der Band, gehörte, ist heute im Lousiana State Museum zu besichtigen.
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"Who's It" Louis Armstrong Hot Five 1926
Für die Jazzgeschichte hat dieser Gag keine größere Bedeutung, doch er illustriert ein Phänomen. Von Anfang an hatte der Jazz eine Liebe zu Außenseiter-Instrumenten. Auch Schlagzeug, Banjo, Vibraphon und elektrisch verstärkte Gitarren hätten sich ohne den Jazz nicht oder erst später durchgesetzt und weit verbreitet. Selbst das Saxophon würde trotz seiner Präsenz in Blaskapellen und dem einen oder anderen klassischen Repertoire-Stück nicht wirklich erstgenommen. In seinen Anfangsjahren, als Jazz noch Teil der regionalen Folklore war, spielten vor allem Kinder und ärmere Leute schon mal auf selbstgebasteltem Instrumentarium oder Haushaltsgeräten. Ein Waschbrett als Schlagwerk zu verwenden und Bassnoten in einen Jug, einen Tonkrug, zu blasen, war in den 20er Jahren sehr populär. Spielte man auf herkömmlichen Instrumenten, versuchte man den Klang durch Verfremdung expressiver zu machen. "Er konnte einen Hahn und ein Baby nachmachen", lobt der Posaunist das Spiel King Olivers mit Dämpfern, deren entscheidender Pionier er war. Die Legende besagt, Oliver bzw. sein Vorläufer Buddy Bolden habe den Plunger-Dämpfer erfunden, indem er die Saugglocke eines Ausgussreinigers (auch genannt: Klopömpel) vom Stil abmachte und vor den Schalltrichter hielt. Das war anfangs auch nur ein Gag, doch bald bereicherten Dämpfer aller Art den Jazz um viele Klangschattierungen.
In den Anfangsjahren galt Jazz vor allem als fröhlich lärmende, nahe beim Zirkus angesiedelte Tanzmusik. Bereits auf dem "Livery Stable Blues" von 1917, der allerersten Jazzplatte, wieherte und bellte die Orginal Dixieland Jazz Band. Schon auf gewöhnlichen Instrumenten gehörten groteske Instrumentaleffekte zum Rüstzeug des Jazzmusikers. Sie gründeten seinen Ruf: War Harry Raderman für seine "laughing trombone" bekannt, so der Tenorsaxophonist Paul Biese für sein "moaning saxophone". Der Übergang zwischen Jazzband und Zirkuskapelle ist nahtlos. Man garniert die Musik mit Pistolenschüssen, jongliert mit Schlagzeugstöcken, imitiert mit besagter Kolbenflöte Vogelgezwitscher, tanzt – kurz: Der Musiker ist zugleich Akrobat und Clown.
Manch einer wird in den 20er Jahren mit Juxinstrumenten zum großen Künstler. Red McKenzie musiziert als Kammbläser auf Augenhöhe mit Coleman Hawkins und Benny Goodman. Adrian Rollini, der vor allem ein Virtuose auf dem seltenen Bass-Saxophon war, entlockte auch einer Reihe Jux-Instrumenten jazzmäßige Wirkungen: dem Goofus, das wie ein Saxophon aussieht, doch wie eine Melodika klingt, und dem Hot Foutain Pen, einer Miniaturklarinette mit dem Aussehen eines größeren Füllfederhalters. Zu hören ist dieses Klarinettchen zum Beispiel in Joe Venutis "Put and Take".
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Joe Venuti - Put And Take - New York, 07.05. 1929
Im frühen modernen Jazz, dessen Vertreter als ernste Künstler wahrgenommen werden wollten, schien solch seltsames Gerät aus dem Jazz verbannt, dafür wurden nach und nach alle klassischen Instrumente, die der Jazz bislang übersehen hatte, etwa Oboe und Horn, rekrutiert. Spätestens in den wilden 60er Jahren, als Rufus Harley den Dudelsack für den Jazz entdeckte und Stan Kenton seinem Orchester einen Mellophon-Satz hinzufügte, wurde der Nachweis erbracht, dass auf jedem Instrument Jazz gespielt werden kann. Alle erdenklichen "little instruments" wurden auf die Bühnen geschleppt; vor allem Perkussionisten umgaben sich mit Arsenalen aus Rasseln, Glöckchen und Zimbeln aus aller Welt. Vor allem zwei Bläser, deren Humor ebenso stark ausgeprägt war wie ihre Experimentierfreude, frönten der Lust, auf nicht etablierten Instrumenten zu blasen. Rahsaan Roland Kirk blies in alle erdenklichen Blasinstrumente, oft sogar in drei gleichzeitig. Zu denen gehörten etwa Stritch und Manzello – und das waren keine Spielzeuge, sondern ausgefallene Instrumente. Er ließ in seiner Musik auch regelmäßig Klangerzeuger erklingen, die nicht als Instrumente betrachtet werden, wie Sirenen, Kuckucksuhren oder Spieldosen. Kirks Kollege Yusef Lateef war ein Wegbereiter der Weltmusik. Wenn er auf Instrumenten wie Shenai, Argol oder Koto spielte, ging es in erster Linie um die Integration von Klängen aus aller Welt. Auf "The Plum Blossom" von 1961 spielte er auf der 1200-jährigen chinesischen Okarina Xun, deren Tonumfang auf eine Quint beschränkt ist. Und bewies damit, dass kein Instrument für großen Jazz zu klein oder ungeeignet ist.
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The Plum Blossom (Rudy Van Gelder Remaster)
18. Mai 2023 BR-Klassik, 23.05 – 0.00 Jazztime mit Benedikt Schregle: Eine Chronik des Jazz (29) von Marcus Woelfle: "High Society" - Mai und Juni 1923