Unser Autor ist auf Entzug. Kirill Petrenko ist weg. Seitdem der Dirigent die Bayerische Staatsoper verlassen hat und zu den Berliner Philharmonikern entschwunden ist, fehlt der Kick im Konzert. Diese einzigartige Mischung aus Präzision und Emotion. Die Power, die der wahrscheinlich penibelste Dirigent der Welt am Pult entfacht. Zum Glück gibt's das Radio. Lindert die Entzugsschmerzen zumindest ein bisschen. Die Lücke, die bleibt jedoch. Am 11. Februar wird Petrenko 50. Höchste Zeit für eine Hommage von BR-KLASSIK-Redakteur Bernhard Neuhoff.
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Vielleicht kennen Sie das: Sie schalten das Radio ein, Musik läuft – und es rattert im Kopf. Vielleicht haben Sie das Stück schon mal gehört, vielleicht haben Sie sogar Spaß daran, den Komponisten zu raten. Für mich ist das ehrlich gesagt ein kleiner Sport. Blindverkostung sozusagen. Alle Vorurteile sind ausgeschaltet.
In diesem Moment, wenn ich der Versuchung widerstehe, auf den Radiotext zu schielen, schlägt für mich als Musikkritiker eine Stunde der Wahrheit. Kein Bild, kein Name, nur die Kunst selbst. Schaffe ich’s, den Interpreten, die Interpretin zu erkennen? Und, noch viel spannender für mich: Wie wird mein Höreindruck dazu passen, was ich bisher über die betreffende Künstlerin gesagt habe?
Manchmal gibt es Enttäuschungen, wenn ich bei der Absage erfahre, wer’s war: Ok, der ist doch nicht so toll, wie ich dachte. Viel schöner sind die Momente, in denen ich positiv überrascht bin: Wow, das hätte dem oder derjenigen gar nicht zugetraut! Am Schönsten ist es natürlich, wenn eine einmal gefasste Vorliebe auf diese Weise besiegelt wird.
Die sind unvergesslich. Zuletzt der Münchner "Tristan" im vergangenen Sommer. Von der Dirigentenleistung her der beste, den ich live gehört habe. Und das gilt für so vieles. Auch für Brahms. Ich erinnere mich an eine tagelang nachwirkende Aufführung der "Vierten" im Oktober 2017. Dieses Lieblingsstück, das ich in- und auswendig kenne, klang verjüngt, krass – der unbürgerlichste, ekstatischste Brahms, den ich je live gehört habe. Dabei trotzdem strukturell unglaublich ausgefuchst: So viele Details und Zusammenhänge habe ich neu begriffen!
Die Musikerinnen und Musiker des Bayerischen Staatsorchesters spielten wie um ihr Leben – und das lustvoll: Denn sie wussten ja, dass alles gut gehen würde. Das ist der Zauber bei Petrenko: Weil er so klar schlägt und weil er in den Proben so penibel ist, kann er im Konzert alles riskieren. Diese Entfesselung scheint auf die Musikerinnen und Musiker wie eine Droge zu wirken, die gerade deswegen so flasht, weil er vorher so nüchtern gearbeitet hat.
Für mich sind diese Live-Erlebnisse beglückend. Warum? Petrenko zeigt, dass Kopf und Bauch, Emotion und Verstand in der Musik zusammenfinden. Und zwar nicht nur in friedlicher Koexistenz. Sondern sie steigern sich gegenseitig: Das Staunen über die Struktur verstärkt noch den Rausch des Gefühls. Natürlich gibt es diese Glücksmomente nicht an jedem Petrenko-Abend. Aber doch ziemlich oft. Da war ich früher verwöhnt – und bin jetzt auf Entzug. Zum Glück kommt er manchmal im Radio.
Sendung: "Allegro" am 11. Februar ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK