Am 12. August 2019 veröffentlichte die Agentur Associated Press die Aussagen von neun verschiedenen Frauen und bis zu dreißig Zeugen, die Plácido Domingo sexuelle Belästigung vorwerfen. Bisher ist nichts juristisch belegt, dennoch kochen die Emotionen hoch, auch in den sozialen Medien. Antonia Goldhammer kommentiert die gängigsten Phrasen, die in #metoo-Debatten regelmäßig aufkommen.
Es scheint, dass jede Debatte um Machtmissbrauch und sexualisierte Übergriffe die gleiche Dynamik entwickelt. Etlichen Reaktionen, Argumenten und Fragen begegnet man immer wieder. Fünf dieser gängigen Phrasen haben wir uns näher angesehen:
Stimmt. Und wir müssen seine Aufnahmen nicht aussortieren, wenn wir Fans seiner Stimme und seiner Bühnenpräsenz sind. Diese Entscheidung ist jedem selbst überlassen. Was zeigt uns dieses Argument? Einen Widerstand, der aus einer Erschütterung unseres Selbstbildes herrührt. Es ist schwer und schmerzhaft zuzugeben, dass man sich – zumindest zum Teil – in jemandem geirrt haben könnte. Jemand, den ich so verehrt habe, an den ich so geglaubt habe, kann kein schlechter Mensch sein.
Dieselbe Erschütterung findet sich übrigens auch in den Aussagen der Frauen, die Domingo jetzt belasten. Wenn es für die Fans schon so schwer zu begreifen ist, dass sie sich getäuscht haben, sodass sie die Verfehlung lieber bei den Frauen als bei ihm suchen – wie schwer muss es dann erst für die betroffenen Frauen selbst gewesen sein? Für mich wird dadurch nachvollziehbar, wie groß ihre Scham war, und wie schwer es ihnen fallen muss, sich anderen anzuvertrauen. Sie konnten es ja selbst nicht glauben. Selbstverständlich wird über schuldig oder nicht-schuldig vor Gericht entschieden. Sollten die Vorwürfe gegen Domingo stimmen, müssen wir unser Bild von ihm nicht revidieren. Wir müssten es aber erweitern.
Lassen Sie mich klarstellen: Jemandem einfach so unter den Rock zu fassen, war immer schon nicht in Ordnung. Das durfte man noch nie. Domingo behauptet in seinem Statement, die Regeln und das Maß, in denen man beurteilt wird, haben sich geändert. Das stimmt so nicht. Was sich aber geändert hat: Zum ersten Mal bringen wir ein gebotenes Maß an Aufmerksamkeit dafür auf, dass es Menschen gibt, die unter dem Verhalten eines anderen leiden. Seit es vor zwei Jahren einige Schauspielerinnen geschafft haben, mit dem Hashtag metoo das Schweigen der Gemeinschaft als kritische Masse zu brechen, kann man sie nicht mehr ignorieren. Eine einzelne Stimme hat offenbar nicht ausgereicht, um Gehör zu finden. Warum? Nun, Harvey Weinstein hatte – genau wie Placido Domingo, Siegfried Mauser, Charles Dutoit und James Levine – viel Macht.
Ein weiterer Effekt von #metoo betrifft die Männer selbst: Es gab eine Zeit, in der Männer untereinander Zustimmung für übergriffiges Verhalten gegenüber Frauen bekommen haben. Da wurde über den "Klaps auf den Po" anerkennend gelacht – man nennt das Manbonding. Dieses Konzept von toxischer Männlichkeit wandelt sich. Immer mehr Männer nehmen Frauen als gleichgestellte Mitmenschen wahr und wollen sie mit Respekt behandeln. Und das verschiebt die Machtverhältnisse.
Wenn die Vorwürfe der Frauen gegen Domingo tatsächlich stimmen, verstehe ich nicht: Wie kann ein sensibler Künstler und intelligenter Mensch wie er auf die Idee kommen, es sei "willkommen und auf Gegenseitigkeit beruhend", sich mit Hilfe der Türcodes ungefragt Zugang zu einer Garderobe zu verschaffen? Hätte es dann Anlass gegeben, wie die über dreißig Zeugen beschreiben, Frauen davor zu warnen, mit Domingo allein zu sein? Hätten die Frauen sich dann zum Schutz von anderen Männern zu Treffen mit ihm begleiten lassen? Hätten sie den Gang, in dem sein Büro ist, bewusst meiden wollen?
Das Argument, man sei von Gegenseitigkeit ausgegangen, kommt in diesen Debatten häufig auf, ähnlich wie das Argument, dass man verbale Übergriffigkeit von Komplimenten nicht unterscheiden könne. Nicht nur, aber gerade, wenn es um Sex geht, gilt und muss gelten: Wo einer sich nicht mehr wohl fühlt, muss Schluss sein! Da gibt’s nur eins: Wir müssen aus dem Fall lernen, Frauen und Männer, miteinander und voneinander. Dazu gehört, dass wir Grenzen setzen, dazu gehört aber auch, dass wir uns nicht stur auf "Nein heißt Nein" verlassen. Denn das würde bedeuten, jeder darf grundsätzlich alles mit dem anderen machen, bis der widerruft. Man darf ja auch kein Auto klauen, nur weil der Besitzer es nicht explizit verboten hat.
Und nur am Rande: Es gibt Menschen, die sagen, man habe Herrn Domingo früher vor seinen Groupies schützen müssen. Diese Art der Bedrängung ist selbstverständlich ebenfalls abzulehnen. Und sollte Herr Domingo — oder wer auch immer — mit sehr vielen verschiedenen Menschen einvernehmlichen Sex gehabt haben, dann ist das natürlich völlig in Ordnung und allenfalls ein Grund, sich für ihn und alle, die dabei waren, zu freuen. Das hätte dann aber mit den aktuellen Vorwürfen einfach nicht das Geringste zu tun.
In dem Artikel der AP zur Causa Domingo kommen die Opfer ausführlich zu Wort. Wer diese langen, detaillierten Ausführungen der Frauen und ihrer Zeugen liest, bekommt wie kaum zuvor in Debatten um Übergriffe einen sehr plastischen Eindruck der komplexen Gefühle, die die Betroffenen durchlebt haben: eine Mischung aus Ekel, Scham, Erschütterung und lähmender Machtlosigkeit. (Übrigens trifft das auf alle Opfer von Übergriffen zu.)
Diese Machtlosigkeit entsteht hier aus der Angst, sich zu wehren, es sich mit einem einflussreichen Menschen zu verscherzen und somit die eigene Karriere zu gefährden ("They’re not going to fire him — they’ll fire me") — die Betroffenen befinden sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Beschuldigten. Die Machtlosigkeit entsteht aber vor allem — und hier läuft das Argument Domingos, er habe an Gegenseitigkeit geglaubt völlig in die Leere — da, wo etwa eine Tänzerin berichtet, mehrfach in Wort und Tat "Nein" gesagt zu haben und dass dieses "Nein" von ihm ignoriert wurde. Machtloser kann man sich nicht fühlen.
Wer hier wie in den anderen #metoo-Fällen genauer hinschaut, erkennt: Es geht überhaupt nicht um Sex. Es geht um Grenzüberschreitungen. Es geht um eine sexualisierte Form des Machtmissbrauchs.
Hier sehe ich gleich drei Gründe, die auf der Hand liegen: Erstens melden sich die Frauen jetzt erst, weil sie sich durch die #metoo-Bewegung ermutigt fühlen. Plötzlich scheinen sie nicht mehr ganz so machtlos zu sein, weil es bereits Beispiele gibt, wo Betroffenen nach langer Zeit doch noch Gerechtigkeit widerfährt. Zweitens haben sie sich jetzt als Gruppe gefunden, was sie stark macht. Dieses Zusammenschließen wird ihnen zum Teil vorgeworfen, aber die Rechnung ist einfach: Ein Star wie Domingo ist offenbar so wichtig wie nur eine Menge anderer Menschen zusammen. Und drittens befinden sich einige, wie Patricia Wulf, nicht mehr im Geschäft. Sie sind also nicht mehr gezwungen, sich durch gute Verbindungen Rollenangebote und einen gewissen Stand in Häusern aufrechtzuerhalten. Sie können aus dem Gefüge der Macht ausbrechen.
Wir brauchen öffentlich gewordene Fälle wie den mutmaßlichen von Domingo. Wir brauchen sie, um die Betroffenen zu hören, um über uns selbst zu lernen, um bewusster mit den eigenen Grenzen und denen anderer umzugehen. Wir können lernen, die Mechanismen zu verstehen, die Grenzüberschreitungen, Abhängigkeiten und vor allem Machtgefüge mit sich bringen. Wenn wir uns dieser Machtgefüge bewusst werden und sehen, wo Abhängigkeiten ausgenutzt werden – sexualisiert oder nicht –, können wir Lösungen finden: Respekt üben. Am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft. In der Familie.
Sendung: "Allegro" am 16. August 2019 ab 06.05 Uhr auf BR-KLASSIK