Keiner weiß, wann es wieder normale Konzerte geben wird. Veranstalter, Intendanten und Musiker suchen Lösungen, um auch während der Corona-Pandemie Konzerte zu ermöglichen. Nach dem 6. Mai will sich auch die Bundesregierung darüber Gedanken machen, wie Kultureinrichtungen schrittweise geöffnet werden können. Klar ist: Es muss Pläne, Vorgaben, Richtlinien geben. Wie sehen die aus? BR-KLASSIK fragt Intendanten, Virologen, Musikermediziner, Veranstalter und Orchester. Für letztere sieht es besonders schlecht aus.
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Die Atmosphäre ist beklemmend und ergreifend zugleich beim diesjährigen Europakonzert am 1. Mai in der Berliner Philharmonie. Auf der großen Bühne verteilen sich 14 Musiker der Berliner Philharmoniker, alle mit mindestens zwei Metern Sicherheitsabstand zueinander. Am Pult dirigiert Kirill Petrenko Mahlers 4. Symphonie in einer Version für Kammerensemble. Der Zuschauerraum bleibt leer – bis auf ein Kamerateam, das das Konzert live in über achtzig Länder überträgt. Am Ende des Konzerts herrscht große Stille. Es ist ja niemand da zum Applaudieren. Bleibt das jetzt so, bis die Corona-Pandemie hinter uns liegt?
Künstler, Kulturveranstalter, Orchestermanager und Intendanten entwickeln in der Zwischenzeit Hygiene- und Sicherheitskonzepte, die ein Konzertleben trotz Corona realisierbar machen. Denn dass das Kulturleben in Deutschland weitergehen muss, darüber sind sich alle einig. "Kultur ist das, was uns alle durchdringt. Wenn wir das auf lange Zeit Menschen vorenthalten, fehlt etwas in ihrem Leben", sagt Max Wagner, Geschäftsführer des Münchner Gasteigs. Und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärt in seiner Ansprache zu Beginn des Europakonzerts:
Kunst und Kultur sind im buchstäblichen Sinn Lebensmittel.
Das Europakonzert zeigt exemplarisch, wie ein erster Schritt in eine "neue Normalität" trotz Corona aussehen könnte; als gestreamtes Livekonzert vor leerem Saal. Solche "Geisterkonzerte" kann sich auch Tilman Schlömp gut vorstellen, Intendant des Festivals "Kissinger Sommer". Ihm geht es dabei nicht nur darum, die Kunst am Leben zu erhalten. Mit solchen Auftritten im Stream wäre nämlich den Künstlern geholfen, vor allem den freischaffenden. Sie sind von der Corona-Krise hart betroffen. "Wir würden bei solchen gestreamten Konzerten in erster Linie die Künstler auftreten lassen, die Einnahmen am nötigsten brauchen", so Tilman Schlömp. Aufgrund einer Vertragsklausel darf er momentan keine Ausfallhonorare auszahlen. Eine bürokratische Hürde, die gerade auf Bundesebene überwunden wurde, aber nicht auf Landes- und Kommunalebene. Noch hat der Intendant Hoffnung, den Kissinger Sommer, der am 19. Juni 2020 beginnen soll, nicht komplett absagen zu müssen. In den nächsten Wochen will er seine Ideen mit der Stadt Bad Kissingen diskutieren.
Orchestermanagerin Veronika Weber ist zufrieden mit dieser Testprobe, auch vor dem Hintergrund, dass das Münchner Rundfunkorchester am 7. Mai seine Saison 2020/2021 vorstellen will. Eine Saison, die mit vielen Hoffnungen, aber vor allem mit vielen Fragezeichen verbunden ist. "Wir überlegen momentan, CD-Produktionen mit kleinen Besetzungen vorzuziehen." Auch Kammermusikprojekte mit Streichern lassen sich mit den Hygienevorgaben gut umsetzen, ist Veronika Weber optimistisch. Das große Orchester wird allerdings so schnell nicht wieder auftreten können.
Solange die Abstandsregeln so sind, kriegen wir das Orchester gar nicht auf die Bühne.
Auch die Spanischen Grippe vor gut hundert Jahren hatte weitreichende Auswirkungen auf die Kulturwelt. Schätzungsweise fünfzig Millionen Menschen fielen der Pandemie 1918/1919 zum Opfer. Das öffentliche Leben in Mitteleuropa war im Oktober 1918 lahmgelegt: Schulen, Restaurants, Cafés, Kinos, Variétés, Theater und Konzertsäle wurden geschlossen. "Sehr zum Ärger der Unternehmer", erzählt Harald Salfellner, Mediziner, Verleger und Autor des Buchs "Die Spanische Grippe". Um eine Schließung zu umgehen, schlugen Unternehmer vor, Luftdesinfektoren oder Perolinspritzen in den Sälen einzusetzen – ohne Erfolg. "Die historischen Berichte sind voll von Protesten, es gab wenig Einsicht und Verständnis für diese drastischen Maßnahmen", so Salfellner. Denn nach dem Ende des Ersten Weltkriegs befanden sich viele Menschen in finanzieller Not. Obwohl die Verordnungen nur für kurze Zeit währten, verschärften sie die wirtschaftlichen Probleme.
Publikumskonzerte in geschlossenen Räumen wären in Corona-Zeiten hingegen eine größere Herausforderung, meint der Virologe Oliver Keppler. Im Saal müssten zwischen den einzelnen Besuchern ausreichend Sitzplätze freibleiben. Keppler empfiehlt, eine Lüftung laufen zu lassen oder nach jedem Stück länger zu lüften. Doch für ihn birgt nicht das eigentliche Konzert das größte Ansteckungsrisiko, sondern die Infrastruktur. "Können alle Leute mit dem Privatwagen kommen, in der Tiefgarage parken? Kommen dann die Leute von diesen Parkplätzen mit Minibussen zu den Veranstaltungen? Ist der Abstand gewahrt?" Solche Fragen müssten sich die Veranstalter stellen. An der Garderobe oder vor den Toiletten dürfe es keine Warteschlangen geben. Auch ein Getränkeausschank in den Pausen könnte schnell dazu verleiten, dass sich Menschen zu nahekommen, meint der Virologe. "Da es viele ältere Konzertbesucher gibt, die eine höheres Risiko haben, schwerer zu erkranken, müssen wir besonders Sorge tragen, dass die Hygieneregeln eingehalten werden."
Generell muss der Anspruch sein, Menschenansammlungen zu minimieren.
Sechshundert statt 2400 Besucher – das stellt private Konzertveranstalter vor ein Problem. Da sie sich ausschließlich über den Ticketverkauf finanzieren, hätten sie nur einen Bruchteil der Einnahmen, gleichzeitig aber mehr Personalaufwand. So sehr er sich eine Rückkehr zum Konzertbetrieb auch wünscht, meint Andreas Schessl, Geschäftsführer des Konzertveranstalters münchenmusik, so rechnet es sich nicht: "Wenn es eine medizinische Lösung gibt, werden wir wieder normal veranstalten können. Alles andere ist nicht realistisch."
Der Konzertveranstalter Andreas Schessl stellt sich auch die Frage, ob das Publikum überhaupt regelmäßig Corona-Konzerte mit strengen Sicherheitsauflagen besuchen wollen würde. Um das herauszufinden, telefonieren die Münchner Philharmoniker gerade mit ihren Abonnenten. Die Reaktionen sind ganz unterschiedlich, erzählt Max Wagner vom Münchner Gasteig: "Die einen haben eher Angst sich hinauszuwagen, andere sind schon ganz hungrig auf Konzerte." Er selbst könnte sich gut vorstellen, ein Konzert mit Hygieneregeln zu besuchen. "Vielleicht hat es etwas Beklemmendes, aber es ist in jedem Fall etwas Besonderes. Wir werden ein vollkommen neues Klangerlebnis haben. Alle sitzen mit Abstand verteilt auf den Raum. Vielleicht ist es auch ein meditatives Erlebnis, wer weiß? Das müssen wir erst mal erleben."