Wahnsinnig vor Liebe schrieb Hector Berlioz das erste Psychogramm der Musikgeschichte: die "Symphonie fantastique". Zu dieser Musik entwarf der Nürnberger Ballettchef Goyo Montero nun das Tanzstück "Latent", das tiefe Einblicke in die menschliche Psyche gibt. Am Sonntag feierte es in Nürnberg seine Uraufführung.
Bildquelle: Jesús Vallinas
In einer Zelle mit Betonwänden sitzt ein Mann an einem grauen Tisch. Er ist tief in sich zusammengesunken. Ein unverständlicher Wortschwall prasselt wie aus dem Nichts kommend auf ihn ein. Er wehrt das Gezeter mit wilden Handbewegungen ab und sackt dann wieder erschöpft vornüber auf die Tischplatte. Damit kehrt das sinnlose Brabbeln in seinen Kopf zurück. Scheinbar schwerelos schwingt der Mann nun den Körper in einer Rolle rückwärts über die Stuhllehne. Er kriecht, geschmeidig wie ein Reptil durch den Raum, sucht einen Ausweg, bis ihn erneut seine Wahnvorstellungen heimsuchen.
Wer er ist, der geplagte Mann im blauen Anzug, das erfahren wir nicht. Vielleicht der von Liebessehnsucht zermürbte Hector Berlioz, vielleicht einer, der den alltäglichen Wahnsinn nicht mehr aushält. Vielleicht auch einer, der aus einem tiefen Rausch ganz allmählich in die Realität zurückkehrt. Auf alle Fälle haben wir es mit einem Mann zu tun, der nicht Herr seiner Sinne ist, der von einer latenten Angst gequält wird. Was sich in seinem Kopf abspielt, das bringt Goyo Montero in "Latent" auf die Bühne.
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Damit einem die latenten, unterschwelligen Ängste des Helden auch richtig unter die Haut gehen, verfrachtet Montero den Zuschauer zunächst vom eigentlich recht bequemen Theatersessel ins Gehirn dieses Mannes im blauen Anzug. Verloren wirkt der auf der riesigen Bühne, umgeben von fließenden, dunkelgrauen Stoffbahnen. Das Corps des Ballett mutiert zur grauen, glibberigen Gehirnmasse: Organisch muten die grau-schwarz-melierten Ganzkörperanzüge der Tänzer an, deren Gesichter hinter strumpfartigen Masken verborgen sind. Organisch bewegen sie sich auch in ständig wechselnden Formationen: Schlangenartig winden sich ihre Arme um den Mann im blauen Anzug. Er wird mit rasanten Schritten umrundet. Agressive Sprünge mit abgespreizten Beinen zwingen ihn zum Zusammenkauern. Er schlittert immer wieder quer über die Bühne, auf der Flucht vor diesen Hirngespinsten, die ihn attackieren wie ein fürchterlicher Migräneanfall. Nur eine Tänzerin zeigt ihr wahres Gesicht, sie trägt keine Maske. Und um ihre Gunst buhlt der Mann im blauen Anzug. Aber sie entzieht sich seinen Annäherungsversuchen.
Max Zachrisson verkörpert den geplagten Mann, glaubhaft irritiert, beängstigend paranoid, geschmeidig wie eine Katze, manchmal schwerelos, wie eine Seifenblase. In die Satzpausen von Berlioz' Sinfonie fügt Montero jeweils ein Intermezzo, das sich in der spartanisch eingerichteten Betonzelle abspielt: Der Mann im blauen Anzug wird von alptraumartigen Visionen, von Halluzinationen heimgesucht: die Geliebte steckt ihren Kopf durch die Wand, vollführt gespenstische Handbewegungen, die dem Mann als Schattentheater erscheinen. Er wird von einem Roboter verfolgt. Ein gesichtsloser Doppelgänger hockt mit ihm am Tisch.
Die bohrenden Klängen, die Owen Belton zwischen die fünf Sätze der "Symphonie fantastique" komponiert hat, sorgen dafür, dass sich beim Zuschauer das Unwohlsein vertieft. Und wenn sich plötzlich die Figuren so geschickt und selbstverständlich senkrecht über die Wände bewegen, dass selbst Spiderman neidisch würde, glaubt man schon, man habe selbst Halluzinationen. Dafür hat Choreograph Montero grau getarnte Griffe in die Wand eingebaut. An diesen schwingen sich die Tänzer unter einem wirklich beeindruckenden Einsatz ihrer Bauchmuskulatur akrobatisch umeinander. Ein äußert gelungener Effekt! Gelungen auch das Eröffnungsbild zum "Ball" aus der "Symphonie fantastique". Die Tänzer tragen jetzt schwarze Häubchen und kneten ein undefinierbares Stoffknäuel. So umkreisen sie den Mann im blauen Anzug. Plötzlich plustert sich zum Dreivierteltakt der Musik das Knäuel aus schwarzer Fallschirmseide auf wie ein Rokokokostüm. Kontrastierend zum weichen Walzerschritt reissen alle die Köpfe zackig von links nach rechts, die Hände erinnern an die Tentakeln eines Oktopus.
Nürnberger Ballettchef Goyo Montero | Bildquelle: BR-Studio Franken/Andreas Schuster Fast in allen neun Teilen des Balletts taucht inmitten des gedanklichen Kuddelmuddel diese Frau auf, die Angebetete des Mannes im blauen Anzug: Sayaka Karo verkörpert die Traumfrau. Bis auf wenige, anschmiegsame Momente, wenn die beiden einen beinahe klassischen Pas de Deux tanzen, bleibt sie unnahbar wie eine Sphinx. Sie scheint die Macht über die Gedanken dieses Mannes zu genießen. Sie ist es, die am Ende triumphiert. Für die nötige Rückendeckung sorgen die deftigen, ausserordentlich präzise spielenden Blechbläser der Staatsphilharmonie Nürnberg. Gabor Kali dirigierte, nach einer anfänglichen Aufwärmphase mit einem spürbar stärkeren Hang zur Dramatik.
Für die 16 Tänzer der Compagnie und den Mann im blauen Anzug sieht das Finale hingegen düster aus: Zwar entledigen sich alle ihrer Masken und ihrer Kleidung, damit auch ihrer latenten Zwänge. Und so springen sie wie eine Horde fröhlicher Kinder in blauen Unterhosen über die Bühne, nach dem Motto: "Die Gedanken sind frei". Aber diese unbeschwerte Zwanglosigkeit wird in den letzten Takten des Finales mit Zwangsjacken - im buchstäblichen Sinne - eingeschränkt! Tosenden Applaus gab es für den Abend, der sich irgendwo zwischen Paranoia und Pas de deux abspielte. Auch Ballettdirektor Goyo Montero und sein Team wurden gefeiert.