Manchmal reicht ja ein Name. Beispiel: Lionel Messi. Anderes Beispiel: Martha Argerich. Was er für den Fußball ist, ist sie für das Klavier. In einem Wort: konkurrenzlos. Das meint zumindest BR-KLASSIK-Autor Tobias Stosiek, der "La Martha" zum 80. Geburtstag gratuliert.
Normalerweise, erzählt Martha Argerich in dem wunderschönen Dokumentarfilm, den ihr vor einigen Jahren ihre Tochter Stéphanie gewidmet hat – normalerweise spiele sie so: Ihr Gesichtsausdruck wird energisch, die Hände deuten an, wo es hingeht: nach vorn. Nur als sie mit ihr, mit Stéphanie, schwanger gewesen sei, da sei es anders gewesen. Ravels "Gaspard de la nuit" habe sie zu dieser Zeit aufgenommen – heute eine Referenzeinspielung. Damals war Argerich todunglücklich. Eine schwangere Hausfrau habe sie da spielen hören: behutsam, besonnen – ohne Esprit.
Nichts gegen schwangere Hausfrauen. Trotzdem: Es sind nicht sie, die einem einfallen, wenn man Martha Argerich zuhört, dieser großen Ungeduldigen. Würde sie schreiben statt spielen, ihre Linien würden grooven, die Buchstaben einander jagen. Hastig gekritzelt sähe das nicht aus. Eher so, als würde da jemand erst in Bewegung zur Ruhe kommen, auf der Flucht zu sich selbst finden.
Es gehört zu den vielen Widersprüchen dieser Pianistin, dass sie, die erklärtermaßen immer noch unter schlimmem Lampenfieber leidet, die Konzerte noch häufiger cancelt als einst ihr superskrupulöser Lehrer Arturo Benedetti Michelangeli – dass ausgerechnet sie am Flügel sitzt, als sei das der natürlichste Ort der Welt: aufrecht, unverkrampft, cool.
Ob Sie es als Frau im Konzertleben schwerer habe, wurde die fünfundzwanzigjährige Martha Argerich einmal gefragt. Und: Ob man ihr weniger zutraue als den männlichen Kollegen. Argerichs vernügt vorgetragene, aber ernüchternde Antwort: "Ja, und das ist sehr schlimm, finde ich!"
Argerich konnten solche Vorurteile nichts anhaben. Dass sie als einzige Frau im Klavierkaiser'schen Kanon der vorgeblich besten Pianisten des 20. Jahrhundert auftaucht, kann man als Beleg für den Sexismus in der Klassik nehmen. Es zeigt aber auch, wie unmöglich es war und ist, an ihr vorbeizukommen. Sie ist schlicht konkurrenzlos. Und räumt dabei auch mit Genderklischees auf.
Das Weiche, Verschleierte ist nicht ihr Ding. Ihre Anschlagstechnik – mehr Schlagtechnik. Verzärtelt wird das Klavier unter ihren Händen garantiert nicht. Scharf, manchmal schneidend ist der Sound, den sie aus dem Kasten holt. Fast unwirsch, schnoddrig ihre Gestik. Nicht umsonst hat sich die oft als schüchtern und mädchenhaft beschriebene Argerich den Beinamen einer Löwin verdient – einer Löwin, die sowohl in Sachen Mähne als auch in Sachen Tempo die männlichen Kollegen deutlich deklassiert.
Impulsiv und introvertiert, zerbrechlich und souverän zugleich: Martha Argerich bleibt die große Ambivalente der Klavierwelt. Die letzte Sphinx. Eine, die zeigt, dass der Wiederholungssport klassische Musik auch ein Abenteuer sein kann. Am 5. Juni wird die tollste Pianistin der Welt 80 Jahre alt.
Sendung: "Piazza" am 5. Juni ab 8.05 Uhr auf BR-KLASSIK