Er spielte himmlischen Mozart, aufwühlenden Beethoven und traumhaften Chopin. Und er spielte Jazz. Friedrich Gulda, der am 16. Mai seinen 90. Geburtstag feiern würde, war ein musikalischer Entdeckungsreisender. Seine Begeisterung für das Unvertraute könnte man heute wieder brauchen.
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Puristen hatten – und haben vielleicht immer noch – in Sachen Gulda und Jazz ein schnelles Urteil bei der Hand. Es seien ganz hübsche Ausflüge eines fabelhaften Pianisten gewesen, aber nicht mehr. Die meisten konnten sich schnell dem süffisanten Diktum des Jazzpublizisten Joachim Ernst Berendt anschließen. Der bekannte einmal: Er liebe Keith Jarrett, "wenn er Jazz spielt", und Friedrich Gulda – "wenn er nicht Jazz spielt". Ein Satz, der gut klingt und seine Gründe hat. Aber auch einer, der viele Jahre lang eine ungerechte Akzentsetzung beförderte. Es stimmt: Der große Improvisator Keith Jarrett hat nie Bach oder Mozart so beseelt gespielt wie Gulda. Und der große Interpret Friedrich Gulda hatte nicht die gleiche erzählerische Phantasie an den Tasten wie Jarrett. Und doch haben beide auf ihre Art die gleiche wichtige Leistung erbracht: Sie haben zementierte Grenzen erschüttert.
Im Falle Guldas war das besonders schwierig. Er eckte an in der Welt, in der er schon mit zwanzig Jahren ein Star war: der Klassikwelt, die diesem Österreicher mit der dickrandigen Brille und den enorm feinen Tasten-Fingerspitzen schon unglaublich früh zu Füßen lag. Er habe jetzt "sein internationales Renommee als Klassiker-Interpret auf Spiel gesetzt", schrieb das Nachrichten-Magazin "Der Spiegel" 1962, als Gulda etwas vollmundig verkündet hatte, er werde sich auf unbestimmte Zeit aus dem klassischen Konzertleben zurückziehen, um einer – wie er fand – "lebendigeren Musik" zu dienen: dem Jazz. "Wenn sie nur die Courage hätten", würden das am liebsten alle Pianisten seiner Generation tun, sagte er auch. Aber: "Der schlechteste Beethoven-Interpret hat ja mehr Ansehen als der beste Jazz-Musiker". Sätze von einem, der es liebte, zu polarisieren.
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Friedrich Gulda - So What, A Portrait (2002) with English subtitles
Jazz hatte Gulda schon früh fasziniert. In Jazzclubs wie "Fatty's Saloon" in Wien brachte er in jungen Jahren viel Zeit zu, unter anderem mit dem später in den USA erfolgreichen Jazzpianisten Joe Zawinul, mit dem er "zusammen aufgewachsen" war. Auch in der "Badewanne" in Berlin erlebte er besondere Stunden. Und 1951 in Chicago, wo er nach einem seiner Klassik-Gastspiele noch im Jazzclub "Capitol Lounge" bei Dizzy Gillespies Band einstieg. Das Eigenschöpferische des Jazz begeisterte ihn. Gulda: Im Jazz würden "täglich 500, vielleicht 1.000 Werke" neu geschaffen, während Musiker der klassischen Musik hauptsächlich "Museumsdiener" seien. Dass diese Zuspitzung so nicht stimmte, wusste der Pianist mit Sicherheit – aber solche Aussagen waren Frucht von Zeiten, in denen, so wiederum ein Originalton Guldas, Musiker und ihre Anhänger "eine gewisse Klassenordnung in ihren vernagelten Hirnen" gehabt hätten, die man tunlichst nicht durchbrechen sollte – übrigens von beiden Seiten. Gulda: "Die Jazzmusiker san genauso". Wer die Grenzüberschreitung trotzdem wage, sei "entweder ein Revolutionär oder ein Narr".
Ein Revolutionär war Gulda sicher. Ein "Narr" nur in der Bedeutung Spötter – ein Till Eulenspiegel der Musik, der die Gesellschaft vor den Kopf stieß, damit sie innehielt und ihre Begrenztheiten besser erkennen konnte. Gulda war ein Meister darin und ergriff dafür unterschiedlichste Mittel, etwa 1981 in seinem "Opus Anders" (zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der Schlagzeugerin und Sängerin Ursula Anders), in dem er nackt in ein Krummhorn blies. Im Trio Anima mit Paul und Limpe Fuchs probierte er sich in völlig freier Klangschöpfung. Und in den 1990er Jahren entdeckte er auch die Techno-Musik für sich und feierte, mit Schirmkäppi und bizarr gemustertem Hemd vom Keyboard aus, "Paradise Dance Partys" an Pop-Spielorten. Geschmack-Konventionen auf die Probe zu stellen – darin gefiel er sich.
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Anima with Friedrich Gulda - Performance 1 live in Altena 1973
Den Jazz – wo, so Gulda, "das Leben noch Lust, Leid und Risiko ist" – betrieb er ernsthaft. "Ich habe nichts können, jazzmäßig gesehen. Klavieristisch hab' ich alles können. Aber als Jazzmusiker war ich eine Null. Zäh und beharrlich hab' ich das gelernt, und zwar so lange, bis ich das konnte", bekannte Gulda. Er lernte dann sogar extra ein Blasinstrument, das Baritonsaxophon: "Ich habe geübt wie ein Trottel, habe überall mitgespielt und habe es auch auf diesem Instrument zu einer gewissen Fertigkeit gebracht". Dass er "kein Spitzen-Jazzmann" sei, war ihm bewusst, aber "durchaus ernst zu nehmen", das wollte er sein. Und das war er. Im Juni 1956 nahm er – gerade 26 Jahre alt geworden – im berühmten New Yorker "Birdland"-Club mit renommierten amerikanischen Kollegen wie Trompeter Idrees Sulieman und Saxophonist Phil Woods Stücke auf, die auf der ersten Jazzplatte eines weltweit angesehenen Klassik-Interpreten veröffentlicht wurden: "Friedrich Gulda At Birdland". (Bei dem Pianisten und Dirigenten André Previn war es umgekehrt: Er errang 1956 als Pianist eines Jazztrios eine Goldene Schallplatte und machte erst später als Dirigent berühmter Symphonieorchester Karriere.) Zwei Jahre wartete das Label Decca damals mit der Veröffentlichung: Denn diese Musik, gespielt von einem Idol der Klassikwelt, war unerhört – im doppelten Wortsinn. Ein Skandal: Dieses Ausnahme-Talent, das so herrliche Stunden mit Mozart bescheren konnte, war nun drauf und dran, seine so kultivierte pianistische Technik zu ruinieren! Kann man so etwas durchgehen lassen?
Man kann. Und man sollte. Vor allem sollte man hinhören. Mit beachtlicher Sicherheit bewegte sich Gulda in der harmonischen Welt von Klassikern wie "All the Things You Are" und "Lullaby of Birdland". Wenn er in seinem Solo des Dizzy-Gillespie-Stücks "A Night in Tunisia" zu sehr immer wieder auf denselben Motiven herumreitet, muss man nicht snobistisch die Nase rümpfen – sondern kann eine wichtige Erkenntnis daraus ziehen: Ein gutes Jazz-Solo zu spielen, ist eine hohe Kunst, die besonderen Formsinn und ein starkes Gespür für Dramaturgie erfordert. Daran arbeiten Spitzenjazzer viele Jahre. Ein junger Klassik-Interpret, der damals seinen ersten großen Schritt als Spieler einer anderen Musik machte, hat da etwas Nachsicht verdient.
Gulda blieb im Jazz nicht bei dem stehen, was er in dieser frühen Phase machte. 1965 nahm er in Wien mit renommierten Jazzern aus den USA und Europa seine "Music For Four Soloists an Band" auf, in der er die großformatige Jazzform ausprobierte: durchaus avantgardistisch für damalige Verhältnisse – und mit so angesehen Solisten-Partnern wie Trompeter Freddie Hubbard und Posaunist J. J. Johnson. Noch berühmter wurden Guldas improvisatorische Begegnungen in den 1980er Jahren unter anderem beim Münchner Klaviersommer mit den Jazz-Kollegen Chick Corea und Joe Zawinul. Oft fand er mit dem jeweiligen Duo-Partner eine gemeinsame Basis in einfachen Blues-Strukturen, und manchmal wurden die musikalischen Gespräche auf zwei Klavieren eine eher lockere Plauderei. Aber noch heute sind sie spannend zu verfolgen: als Abtasten von Gemeinsamkeiten und Unterschieden in zwei Musikwelten, in denen ein gutes Ohr und eine hohe technische Beherrschung des Instruments gleichermaßen wichtig sind.
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Friedrich Gulda, Chick Corea - Blues Impro
Friedrich Gulda war ein Bürgerschreck, ein Brachland-Erkunder, ein Türen-Öffner. Er ging auf andere Musiksparten nicht mit der Selbstgewissheit des großen Stars heran, der glaubte, alles schon zu können, sondern mit echter Hingabe und redlicher Neugier. Er verärgerte sein Stammpublikum und lockte ein Publikum mit anderen Hörgewohnheiten an. Er war ein Kommunikator, ein kreativer Schänder von Heiligtümern, ein Verehrer von Verachtetem. Der – in seinen Worten – "unverantwortliche Konservatismus des Klassikpublikums" war ihm aus gutem Grund ein Dorn im Auge. Nur einer wie er, dessen Töne die Klassikwelt so in den Himmel gehoben hatte, konnte es sich leisten, das Publikum aus den Wolken zu holen. Und es macht bis heute Vergnügen, Videos von Interviews mit ihm anzuschauen, in denen er über den Musikbetrieb seiner Zeit herzieht.
Gulda starb im Jahr 2000. Seitdem ist die Welt nicht liberaler geworden. Politisch ohnehin nicht, und künstlerisch nur scheinbar. Es gibt zwar heute sehr viel mehr herausragende Musiker, die sich in unterschiedlichen Sparten auskennen und für die Grenzüberschreitungen fast selbstverständlich sind; und in manchen kulturbewussten Medien ist schon seit den späten 1980er Jahren die Trennung zwischen "E" und "U" längst nicht mehr so stark wie einst. Doch der Musikbetrieb ist enger geworden. Große Labels setzen unter dem Druck des weltweiten Marktes mehr auf Stars denn auf experimentierende Kunst, auch in der Klassik. In den von Sparzwängen und Profilierungsdruck gebeutelten Medien prägt sich das Spartendenken in den letzten Jahren wieder mehr aus. Und das Publikum sucht im unendlichen Angebot nach möglichst eindeutigen Etiketten – oder aber nach dem ganz Spektakulären, Kuriosen, Artistischen. Kunst, die gegen den Strich bürstet, hat es da schwer.
Gerade zu solchen Zeiten braucht man sie besonders: die Guldas dieser Welt oder ihre Verwandten; renommierte Künstler, die sich querlegen im Betrieb, weil sie Unbequemes ausprobieren wollen. Und sich besonders für das interessieren, was sie noch nicht können – statt zum Automaten zu werden, der Vertrautes für ein vertrautes Publikum absolviert. Abenteuer erwünscht – aber vielleicht lieber ohne das Krummhorn.
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