Es war eine Vollbremsung – die Corona-Pandemie hat das Konzertleben plötzlich gestoppt. BR-KLASSIK-Reporterin Svenja Wieser war über den Sommer auf Reise durch Deutschland, auf der Suche nach einer Antwort: Wie können sich Publikum und Künstler wieder näherkommen?
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Neue Aufführungsformate durch Corona
In Konzerthäusern herrscht gähnende Leere, das Publikum verschanzt sich hinter gefühllosen Bildschirmen, Künstlerinnen und Künstlern wird die Sprache genommen. Corona hat das Konzertleben komplett verändert. Also suche ich im Sommer 2020 nach dem neuen Konzertereignis, nach dem neuen Live-Moment. Ich frage mich: Wie kann die Musik wieder mitten in unser Leben kommen?
Meine erste Station: Ein Tagungszentrum in Würzburg, 26. Juni 2020. Nach Monaten darf ich wieder eine Konzertlocation betreten. Allerdings: Kein großer Konzertsaal mit engen Stuhlreihen, sondern eine schlichte Kongresshalle. Ich fühle mich ein bisschen wie in einem Club. Das Licht ist aus, nur blaue und rote Strahler beleuchten die Wände. Stühle gibt es keine, dafür sind auf dem Boden mit neongrün leuchtendem Klebeband Kreise aufgeklebt. Pro Kreis dürfen maximal drei Personen zusammenstehen, die sich kennen. Ich habe einen Kreis für mich allein.
Ich bin beim Mozartfest Würzburg, hier sind Indoor-Konzerte nach wochenlangem Entzug wieder erlaubt. Das "Orchester im Treppenhaus" spielt hier, es ist ein kleines Ensemble aus Hannover, mit wechselnder Mitgliederzahl, je nach Konzertformat. In Würzburg, bei seinem ersten Auftritt nach dem Lockdown, sind sie zu fünft. Direkt neben mir steht das Schlagwerk, die Musiker und Musikerinnen des "Orchesters im Treppenhaus" sind über die ganze Halle verteilt.
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Ich bin mit dem Gefühl ins Konzert gegangen, Abstand zu halten. Aber eigentlich bin ich so nah dran an den Musikern wie selten im Konzert. Ich höre sie atmen, ich sehe, wie sie Blickkontakt aufnehmen. Ich kann jede Bewegung genau beobachten. Nur drei Meter entfernt von mir steht die Geigerin Johanna Ruppert. "Einfach Stuhlreihen vollpacken und vor die Bühne stellen funktioniert nicht mehr", sagt sie. "Einfach mal den Raum neu denken, das ist etwas, das wir aus dieser Situation mitnehmen können." Die neuen Vorschriften zum Spiel machen, zum Ausgangspunkt neuer Ideen – der Gedanke gefällt mir. Wie sehen das andere Künstlerinnen und Künstler?
Zu Besuch bei der jungen norddeutschen philharmonie. | Bildquelle: Sophia Hegewald Ein paar Wochen später, 6. August 2020, Olympiapark in München. Ich treffe mich mit Mitgliedern der jungen norddeutschen philharmonie. "Die junge norddeutsche philharmonie ist ein Orchester sowie ein Netzwerk von jungen Leuten, die Lust haben, was zu verändern, die ohne lange nachzudenken ins Machen kommen wollen", sagt Konstantin Udert, Geschäftsführer der jungen norddeutschen philharmonie (jnp). Die jnp ist ein selbstorganisiertes Orchester. Musikstudierende und Studierende anderer Fachrichtungen treffen sich in Projektphasen, sie proben nicht nur, sondern spielen Fußball oder kochen und feiern zusammen.
2020 wollte die junge norddeutsche philharmonie ihr 10-jähriges Jubiläum feiern. Mit großem eigenem Festival, Auftritt bei den Köthener Bachfesttagen und Alumni-Treffen in Norddeutschland. Stattdessen Stille auf der Konzertbühne, die Mitglieder sitzen in ganz Deutschland verteilt vor ihren Screens oder versuchen alleine im Übezimmer ihre Instrumente warm zu halten Die Musikerinnen und Musiker tüfteln einen Plan aus: Trotz Corona soll die jnp-Gemeinschaft stärker werden als je zuvor. Das Orgateam des Orchester besucht mit seinem "jnp-Mobil" ehemalige Mitglieder und Wegbereiter des Orchesters. Sie organisieren Workshops, Webinare, einen Newsletter.
"Tatsächlich ist sehr viel passiert, was ohne Corona nicht möglich gewesen wäre", sagt Louise Engel, Cellistin im Orchester. "Vieles davon wollten wir schon immer mal machen. Und durch Corona sind so viele Kapazitäten frei geworden, dass wir am Anfang gar nicht mehr aufhören konnten, uns neue Projekte zu überlegen." Die Corona-Zeit hat bei der jnp also als Klebstoff gewirkt: für einen noch größeren Zusammenhalt innerhalb des Orchesters. Für ein besseres Kennenlernen untereinander. Und als Katalysator für mehr kreative Formate.
Back to normal – Ich hoffe sehr, dass es nicht dahin zurückgeht. Denn das ist es glaub ich nicht, das ist nicht unsere Zukunft.
Bildquelle: picture alliance / dpa / Jim Rakete Corona hat nicht nur Musikerinnen und Musiker getroffen, sondern auch Festivals, Veranstalterinnen und Veranstalter und alles was um ein Konzert herum stattfindet. Wenn doch was stattfindet, ist das fast ein Wunder. Deswegen bin ich in Köthen, am 4. September 2020, zu den Bachfesttagen gefahren. "Dass die Bachfesttage stattfinden, ist natürlich unglaublich emotional", sagt Folkert Uhde, der Intendant des Festivals. "Als die erste Musikerin aufgetaucht ist, als sie sich an den Flügel gesetzt hat und die 29. Variation der Goldberg-Variationen gespielt hat – da musste ich heulen. Das hat mich umgehauen, weil die letzten Monate wirklich sehr hart waren."
Wie lebt ein Festival weiter, das sich zum Ziel gesetzt hat, "leidenschaftlich familiär zu sein", das von der Nähe zwischen Publikum und Künstlern lebt und vom geselligen Bier nach der Musik? Getümmel an der Abendkasse und Gedränge in den Sitzreihen gibt's dieses Jahr nicht bei den Köthener Bachfesttagen. Meist sind die Stühle einzeln, mit zwei Metern Abstand im Halbkreis um die Künstler aufgestellt. Im großen Johann-Sebastian-Bach-Saal wurden Sitzbänke abmontiert. Mir gefällt das eigentlich ganz gut, ich habe endlich mal Platz, während ich der Musik lausche. Endlich kann ich mal die Beine ausstrecken.
"Mir war vorher gar nicht klar, wozu der Abstand zwischen den Stühlen führt", sagt Folkert Uhde. "Normalerweise gibt es viel Unruhe bevor ein Konzert losgeht, es dauert immer bis aufmerksame Ruhe einkehrt. Das ist jetzt überhaupt nicht so. Ich habe das Gefühl, das Publikum versenkt sich schon und erwartet die Musik." Auch Künstlerinnen und Künstler bestätigen das: Das Publikum ist besonders aufmerksam und dankbar. "Ich spüre, da ist ein aufgestauter Hunger nach dieser gemeinsamen Erfahrung, auf beiden Seiten, auf Seiten des Publikums und der Künstler.", sagt der Mandolinist Avi Avital. Die Geigerin Isabelle Faust ergänzt: "Das hat mich total umgehauen. Die Leute haben mich angelächelt und mir mit den Augen gesagt: Wir brauchen das!"
Die Köthener Bachfesttage zeigen, wie ein Festival im Jahr 2020 funktionieren kann: Wie trotz aller Hygienevorschriften das Publikum an die Künstler heranrückt, wie das Publikum Energie aus der Musik zieht und sich ganz intensiv auf den Live-Moment konzentriert. Trotzdem schwingt in jedem Gespräch, das ich führe, Unsicherheit mit. Niemand weiß, wie sich die kommenden Monate entwickeln werden. "Das Schockierendste war für mich, dass wir gesehen haben, dass Kultur für die Politik doch das allerallerallerallerletzte Rad am Wagen ist", sagt Isabelle Faust. "Dabei ist sie der Schatz, auf dem wir unser ganzes Denken bauen."
Wir spielen ums Überleben. Wenn wir nicht spielen, verdienen wir nichts.
Bildquelle: © Marco Borggreve Meine Reise führt mich nach Karlsruhe, am 14. September, in die Wohnung des Trompeters Simon Höfele. Es ist eine gemütliche Dachgeschosswohnung, eine Wendeltreppe führt ins Schlafzimmer, um die Ecke geht's ins Übezimmer. Ich kenne die Wohnung eigentlich schon, von Instagram, von vielen Posts und Videos. Eines Abends lag ich im Bett und da ist ein Video aufgeploppt: Eine Minute und 30 Sekunden lang, das Bild ist aufgeteilt in Kacheln, man sieht Simon Höfele vier Mal, weil er mit seiner Trompete vier Stimmen spielt, der Pianist Frank Duprée ist in den unteren Kacheln und spielt mal Schlagzeug, mal Klavier.
"Während des Lockdowns haben wir uns gedacht, dass so was ganz cool sein kann, wenn man es denn gut macht", sagt Simon Höfele. "Wir haben uns sehr viel Mühe gegeben, dass es nicht lieblos dahin geklatscht aussieht, sondern wir haben uns Gedanken gemacht." Einige Stunden hat es gedauert, alle Stimmen zusammen zu schneiden. Ein Aufwand, der auch Ventil war: "Ich wurde komplett von heute auf morgen aus meinem Konzertleben gerissen. Dann sitzt man Zuhause rum und weiß nicht, wohin mit seiner Energie und ich dachte mir dann, okay, ich steck jetzt all diese Energie in Instagram und Facebook."
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#StayHomeMusicSessions No. 24 – Simon Höfele | Frank Dupree
Ich glaube, es ist als Musiker immer gut zu wissen, wie die Technik hinter all dem funktioniert.
Simon Höfele kochte und backte auch mit Kolleginnen und Kollegen, redete mit ihnen über Musik und Corona und streamte das im Internet. Außerdem fotografierte er viel, unter anderem die Black-Lives-Matter-Demonstration in Karlsruhe. Ihn beschäftigte der Mord an George Floyd im Mai sehr stark. "Dadurch, dass man jetzt Zeit hat und diese Nachrichten ganz ungefiltert und ganz unmittelbar mitbekommt – da habe ich realisiert, wie unfassbar groß dieses ganze Ding ist", sagt Höfele. Er gab einen Online-Meisterkurs und spendete den Erlös an zwei Organisationen, die Rassismus bekämpfen.
Die Künstlerinnen und Künstler finden ihre ganz eigenen Wege, durch die Krise zu gehen. Nicht jeder ist aber ein Fan der Online-Formate. Ich telefoniere mit der Jazz-Saxophonistin Stephanie Lottermoser, sie hat zu Anfang des Lockdown einen oft geteilten Text gepostet. "Ich habe ganz am Anfang mal etwas dazu gepostet, dass ich es sehr unüberlegt fand, dass man das, womit man sonst sein Geld verdient, ununterbrochen in sehr unterschiedlich guter Qualität umsonst im Internet darbietet." Stephanie Lottermoser hat darauf viele Kommentare und Nachrichten bekommen, positive und negative. Und es stimmt ja: Reichweite ist gut – aber Künstlerinnen und Künstler müssen auch von ihrer Musik leben können.
Diesen Sommer 2020 war ich auf der Suche nach dem neuen Konzertereignis. Dem neuen Live-Kitzel. Und ich kann jeden beruhigen: Er ist da - noch intensiver als zuvor. Wir haben gespürt, wie sich Musik-Entzug anfühlt. Jetzt gilt es zurückzukehren zu den Wurzeln der Musik. Wir brauchen Konzerte, wo wir Musik ohne Widerstände in uns hineinfließen lassen können.
Vielleicht schaffen wir eine neue Nähe zur Live-Musik, die uns in den letzten Monaten so gefehlt hat, wie bei den Köthener Bachfesttagen. Vielleicht erkennen wir nun alle Möglichkeiten, die uns bereitstehen, um Musik an das Publikum zu tragen, Simon Höfele macht’s vor mit seinen Mini-Streams auf Instagram. Und vielleicht nehmen wir uns die Zeit zu erkennen, mit wem wir eigentlich Musik machen und welche gemeinsamen Ziele wir haben, wie es die junge norddeutsche philharmonie diesen Sommer getan hat.
Ich weiß nicht, was jetzt kommt. Aber eines ist klar: Zurück, geht's nicht mehr.