Musikkritiker sind sich selten einig, aber immer von ihrer Meinung überzeugt. Ein BR-KLASSIK-Hörer fragt, was er eigentlich davon halten soll. Unser Kritiker Bernhard Neuhoff antwortet ihm und erklärt, was eine gelungene Kritik für ihn ausmacht.
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Guten Tag,
ich habe Ihre Kritik der Premiere von "Lady Macbeth" an der Bayerischen Staatsoper gehört. Der Gegensatz zwischen Ihrem überschwänglichen Lob und dem Verriss in der Süddeutschen Zeitung könnte augenfälliger nicht sein. Immerhin war Herr Brembeck in derselben Aufführung wie Sie.
Nach welcher Kritik soll man jetzt gehen, wenn man überlegt, ob man in die Aufführung gehen soll oder nicht?
Beste Hörergrüße,
S. Schmid
Lieber Herr Schmid,
Kritiken tun natürlich nur so, als ob sie ewige Wahrheiten verkünden. Aber sie tun es aus gutem Grund. Ihr Zweck ist nämlich nicht, einen Streit zu schlichten, sondern ihn womöglich noch anzuheizen. Die Auseinandersetzung um die Kunst schadet ihr nicht, im Gegenteil, sie gehört zu ihrem Wesen. Viel schlimmer als ein negatives Urteil ist die Gleichgültigkeit.
Opern haben es mit extremen Gefühlen zu tun. Diese sind ansteckend. Sich dagegen zu immunisieren, hieße, von vornherein an der Sache vorbei zu reden. Schließlich kann sich die Oper als eine der teuersten aller Kunstformen durch nichts anderes rechtfertigen als durch die Intensität des Erlebens. Damit ist das Register vorgegeben, in dem wir reden: Kritiken müssen pointiert formuliert und rhetorisch zugespitzt sein.
Szenenbild aus der Inszenierung von Schostakowitschs "Lady Macbeth" in München | Bildquelle: Bayerische Staatsoper/W. Hösl Selbstverständlich ist das nicht die einzige Ursache für den manchmal provozierenden Gestus der Unfehlbarkeit, mit dem viele Kritiker auftreten - in krassem Gegensatz zur offensichtlichen Anfechtbarkeit ihrer Äußerungen. Die größte Gefahr ist natürlich die Eitelkeit. Um ihr entgegenzusteuern, braucht man ein solides Handwerk. Unsere wichtigste Pflicht ist, so viel Hörerfahrung und Wissen zu sammeln wie möglich. Die zweitwichtigste: Wir müssen ein kritisches Verhältnis zu uns selbst entwickeln, müssen versuchen, unseren Schwächen, unseren eingefahrenen Reaktionsmechanismen auf die Schliche zu kommen.
Dann besteht die Chance, dass der Streit um die Kunst nicht nur leidenschaftlich, sondern auch lustvoll wird. Das gelingt immer dann, wenn eine Kritik dazu führt, dass man nach der Lektüre differenzierter wahrnimmt, mehr hört und sieht. Deshalb brauchen wir Kritiker Sie, unsere Hörer und Leser. Auch wenn manche von uns so tun, als würden wir nur wenig auf die Meinung des breiten Publikums geben (was natürlich nur ein rhetorischer Trick ist, einer von den schlechten): In Wirklichkeit wollen wir Sie gewinnen, mit unserer Begeisterung oder unserer Empörung anstecken. Wir wollen dabei allerdings auch Gründe zur Diskussion stellen, warum etwas gut und warum es schlecht ist - oder sein könnte. Und gelegentlich wollen wir, auch das muss zugegeben werden, zum Widerspruch herausfordern. Ziel einer guten Kritik ist eben nicht die allgemeine Einigkeit, sondern die Schärfung der Wahrnehmung.
Ich fürchte also, Sie werden sich Ihr Urteil selbst bilden müssen. Wenn Sie dann nach der Aufführung anderer Meinung sind als ich, meinen Text aber trotzdem anregend fanden, würde mich das sogar mehr freuen, als wenn Sie hundertprozentig auf meiner Linie liegen. Denn es geht ja um eine möglichst gewinnbringende Fortsetzung, nicht um das Ende der Debatte. Das gäbe es erst, wenn irgendjemand die objektive Wahrheit gefunden hätte. Glücklicherweise steht das nicht zu befürchten. Es wäre nämlich dann auch der Tod der Kunst.
Es grüßt Sie herzlich
Bernhard Neuhoff
Kommentare (1)
Freitag, 16.Dezember, 15:13 Uhr
Eloge
"Kritik"? Oft kaum mehr als Inhaltsangabe
Ich glaube, die Mehrheit der heutigen Opern-/Konzertgänger und nicht zuletzt CD-Hörer wünscht sich etwas ganz anderes, nämlich Orientierung. CD-Kritiken lesen sich heute oft nicht wie Kritiken, sondern wie Inhaltsangaben - oft ohne abschließende Wertung. Bei der Oper wird mehr auf die Inszenierung Acht gegeben als auf die musikalische Leistung - aber darunter hatte schon Berlioz zu leiden. Bei Konzerten ist die Kritik im engeren Sinne oft noch am besten, aber sie ist auch am wenigsten nachprüfbar/beurteilbar, wenn man nicht gerade selbst im Konzert war. Kurz gesagt: Die deutsche Musikkritik ist mir persönlich heute oft zu lapidar und noch zu wenig meinungsfreudig. Echte Einordnungen, historische Herleitungen, kritische Einschätzungen, kurz: Wirkliche Hilfe und Orientierung kann man vielfach nicht mehr erwarten. Zumal auch bei den CD-Kritiken oft die vermeintlich großen Firmen mit den vermeintlich großen Künstlern bevorzugt werden. Objektivität ist oft nicht gegeben.Und das ist schlimm!