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Kritik – "Boris" in Stuttgart Seekrank im Meer der Erinnerungen

Russische Gegenwarts-Bewältigung an der Staatsoper Stuttgart: Regisseur Paul-Georg Dittrich kombiniert in seiner Neuinszenierung der Oper "Boris Godunow" Modest Mussorgskijs Musik mit Auszügen aus dem Zeitzeugen-Buch "Secondhand-Zeit" von Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Diese historische Kreuzfahrt überforderte viele Zuschauer bei der Premiere am 2. Februar.

Staatsopernchor Stuttgart | Bildquelle: Matthias Baus

Bildquelle: Matthias Baus

Im hohen Seegang der Geschichte kann es schon mal passieren, dass jemand mit dem Kopf unter Wasser gerät, und so mancher taucht bekanntlich nie wieder auf. An der Staatsoper Stuttgart tosten die Wellen gestern Abend besonders wild, und nicht wenige Zuschauer meldeten sich schon in der Pause seekrank und gingen eilig nach Hause, wohl weil sie befürchteten, ansonsten über Bord zu gehen. Andere protestierten mit Buhrufen gegen diese in der Tat schwindelerregende Kreuzfahrt quer durch die stürmische Vergangenheit Russlands.

Auf den Trümmern des Sozialismus

Es gab allerdings auch Zustimmung, vor allem für den Chor und die Sänger – und für den Kapitän auf dieser Expedition, den Dirigenten Titus Engel. Er hatte sich auf das Wagnis eingelassen, Modest Mussorgskijs nicht gerade übersichtliche Historien-Oper "Boris Godunow" mit neu komponierten Teilen aus der Feder von Sergej Newski zu kombinieren. Der gebürtige Moskauer Newski, 47 Jahre alt, vertonte Auszüge aus dem tief bewegenden Buch "Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus" von Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch.

Aufstieg und Fall

Sechs Zeitzeugen, die im Buch zu Wort kommen, treten in der Oper auf, darunter ehemalige Partisanen, ein Obdachloser und eine Geflüchtete. Es sind Menschen, die den Sozialismus erlebt haben und dessen Zusammenbruch. Um Aufstieg und Fall geht es ja auch bei "Boris Godunow". Allerdings spielt diese Oper eigentlich am Ende des 16. Jahrhunderts – wohl ein Grund dafür, dass mancher Zuschauer irritiert war, zumal nicht jeder mit der russischen Geschichte vertraut ist.

Heilsbringer im goldenen Einteiler

Adam Palka (Boris) und Carina Schmieger (Xenia) | Bildquelle: Matthias Baus Adam Palka (Boris) und Carina Schmieger (Xenia) | Bildquelle: Matthias Baus Regisseur Paul-Georg Dittrich und sein vielköpfiges Ausstattungsteam ließen sich davon leider nicht abhalten, einen anspielungsreichen, aber eben auch sehr konfusen Abend über das Auf und Ab der Gezeiten in der Welt im Allgemeinen und in Russland im Besonderen auf die Bühne zu bringen. Mit anderen Worten: Sie wollten wohl bebildern, wie Menschen an die Macht kommen und sie wieder verlieren. Das funktioniert ja heute nicht anders als im 16. Jahrhundert, ist aber nicht gerade eine aufregend neue Erkenntnis. So tritt der titelgebende Boris Godunow anfangs als populistischer Heilsbringer im goldglänzenden Einteiler auf, faselt davon, das Volk zu beglücken, um zügig in Diktatur und Wahnsinn abzugleiten. Dazu flirren Bilder von Stalin bis Putin im rasenden Tempo über eine kreisrunde Projektionsfläche.

Babuschkas und Ikonen

Die Bühnenbildner Joki Tewes und Jana Findeklee hatten eine Art Strand-Pavillon am Meer der Erinnerung entworfen, einen von diesen futuristischen Bauten, wie sie an der Ostseeküste der DDR herumstanden. Darin Versatzstücke der Sowjet-Ära: Ein heroisches Mosaik im realsozialistischen Stil, eine protzige goldene Flügeltür wie aus dem Kreml, ein Dreck-Ecke, die wohl von Rohöl verseucht wurde. Öl und Gold, das sind hier überhaupt die beiden viel zitierten Kraftquellen der Geschichte. Der Chor sieht aus, als habe er unter einer Pipeline geduscht, ölverschmiert von Kopf bis Hüfte. Auch die Kostümbildnerinnen Pia Dederichs und Lena Schmid orientierten sich an historischen Vorbildern: farbenfrohe Babuschkas und Ikonen, soweit das Auge reicht. Männer mit Schlafsäcken auf dem Kopf, Madonnen, die am Milchtropf hängen, bekrönte Kinder, Machthaber in bodenlangen knallroten Regenmänteln.

Geringer Erkenntnisgewinn

Adam Palka (Boris) | Bildquelle: Matthias Baus Adam Palka (Boris) | Bildquelle: Matthias Baus Insgesamt ein wahrhaft bombastischer Aufwand, wobei den Machern offenbar etwas aus dem Blick geriet, dass sie damit gewissermaßen eine Satire auf sich selbst produzierten statt auf Russland oder den Sozialismus. Das alles wirkte so, als ob das Staatstheater Stuttgart partout mit einem Viermaster in See stechen wollte und dann in der kurvenreichen Wolga auf Grund lief. Der Erkenntnisgewinn war jedenfalls gering, das Durcheinander imposant. Zu loben sind die Solisten, die sich in diese unübersichtliche Arena der Gegenwartsbewältigung begaben, allen voran der vergleichweise junge polnische Bass Adam Palka in der Titelrolle des Boris Godunow. Auch der Chor trumpfte stimmlich kräftig auf und spielte gewohnt leidenschaftlich.

Es fehlten die Stabilisatoren

Dirigent Titus Engel hatte als erfahrener Abenteurer keine Probleme, den Überblick zu behalten, obwohl kreuz und quer im Zuschauerraum gesungen wurde und der Wechsel von Modest Mussorgskijs Partitur zu immer wieder eingestreuten Werkteilen von Sergej Newski nicht gerade unkompliziert war. Dabei ist Newski zugute zu halten, dass er sehr textverständlich komponierte und, was die Anschlüsse betraf, auf Mussorgskij einging. Ansonsten freilich blieb er recht schemenhaft, zu nebulös jedenfalls, um mit Noten Charaktere zu zeichnen. Schade, aber gerade die so wichtigen Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts gingen total unter in diesem optischen Tohuwabohu. Als Revue war das alles zu schwergängig, als Bilderbogen zu überfrachtet, als sozialistischer Heimatabend zu skurril. Als Kreuzfahrt war es okay, aber da fehlten eindeutig die Stabilisatoren.

Sendung: "Leporello" am 3. Februar 2020 ab 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK

Der Stuttgarter "Boris"

Informationen zu Terminen, Vorverkauf und Besetzung erhalten Sie auf der Homepage der Staatsoper Stuttgart.

Kommentare (1)

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Dienstag, 04.Februar, 13:56 Uhr

Olve Feuerbach

Boris

Die handlungslogischen Schwierigkeiten von Mussorgskys Arbeit sind ja bekannt. Aber die Entscheidung, Unklarheiten durch Konfusion und fette Ramsch-Szenen beheben zu wollen, war sicher falsch. Und eines hat der Abend mir jedenfalls auch gezeigt: Die heftigen Vorbehalte, die gegen den Nobelpreis von Frau Alexijewitsch geäußert wurden, waren begründet. Und die Dramaturgie hat leider nichts getan, um das Abgleiten in sentimentalen Kitsch zu verhindern. Schade um so viel verspritztes Hirnschmalz!

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