Als Tänzer ist Laurent Hilaire in Paris groß und berühmt geworden. Er hat in London, Mailand und Berlin getanzt, ist 2005 als Ballettmeister nach Paris zurückgekehrt – und war fünf Jahre lang künstlerischer Direktor am Stanislawski-Ballett in Moskau. Diesen Posten hat er im vergangenen Jahr aufgegeben – als Reaktion auf Putins Überfall der Ukraine. Im Mai hat er als Nachfolger von Igor Zelensky die Leitung des Bayerischen Staatsballetts in München übernommen. Jetzt stellt Laurent Hilaire seine erste von ihm selbst konzipierte Saison vor. Michael Atzinger hat mit ihm gesprochen.
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Michael Atzinger: Monsieur Hilaire, Als Sie im vergangenen Sommer nach München gekommen sind, haben Sie von der positiven Atmosphäre gesprochen, die Sie hier wahrgenommen haben … vom hohen Stellenwert der Kultur. Hat sich dieser Eindruck jetzt, nach acht, neun Monaten bestätigt?
Laurent Hilaire: Auf alle Fälle. Und zwar, was die Arbeit mit dem Ensemble betrifft, aber auch den Empfang durch das Publikum, das Interesse, das die Menschen hier dem Ballett entgegenbringen. Ich habe inzwischen schon intensiv mit der Compagnie gearbeitet. Jetzt gerade hatten wir noch einmal einen grandiosen Abend mit dem Stück "Jewels" … Ich nehme dankbar wahr, wie sich die Tänzer und Tänzerinnen mit ihren Talenten persönlich einbringen und sich gleichzeitig als Teil eines Ganzen, eines Theaters, einer Gruppe begreifen.
Michael Atzinger: Sie sind eingestiegen in eine Saison, die noch von Ihrem Vorgänger Igor Zelenski konzipiert worden ist … Ab Herbst 2023 trägt das Bayerische Staatsballett Ihre Handschrift. Wird es ein Saison-Motto geben?
Laurent Hilaire: Mein Motto, besser noch: meine Mission, ist es, das kostbare kulturelle Erbe dieses Hauses weiter zu pflegen. Das ist ja auch die Aufgabe eines Staatsballetts. Und die andere ist, uns für das zeitgenössische Ballett zu öffnen, also dem Publikum eine Sicht auf die Welt von heute anzubieten. Dabei ist mir ein Punkt ganz wichtig: Das klassische und das zeitgenössische Ballett sind keine Gegensätze, sondern ergänzen einander. Der klassisch ausgebildete Tänzer lernt von zeitgenössischen Choreographien - und die Choreographen unserer Zeit ziehen natürlich Interessantes aus der Klassik.
Michael Atzinger: Was erwartet uns denn im klassischen Repertoire?
Laurent Hilaire: Unsere erste Premiere ist eine Produktion mit dem Titel "Le Parc" des zeitgenössischen Choreographen Angelin Preljocaj. Aber was heißt schon klassisch – oder zeitgenössisch? Balanchine ist ein zeitgenössischer Choreograph. Aber schon längst ein Klassiker. Und seine Arbeiten werden sicher bis in alle Ewigkeit getanzt werden. Und jetzt wird es interessant: "Le Parc" ist ein zeitgenössisches Stück, das aber in der klassischen Welt angesiedelt ist. Die Musik kommt nämlich von Mozart. Die Bühne zeigt unsere Welt, die Kostüme wiederum sind klassisch. Eine gelungene Mischung – und schon jahrzehntelang – und sicher noch jahrzehntelang - auf den Spielplänen.
Michael Atzinger: Sie sind in der internationalen Tanzszene gut vernetzt … Wo steht denn gerade das zeitgenössische Tanztheater? Ist da gerade viel Aufbruch, gibt es neue Entwicklungen – oder tut sich da vielleicht gerade nicht so viel?
Laurent Hilaire: Wir haben viele neue junge Choreographen, die die Kunstform Tanz gerade sehr bereichern. Der Tanz ist eine außerordentlich dynamische Kunst. Vor allem in Israel, Frankreich, den USA, in England oder in Schweden tauchen immer wieder junge Talente auf, die man erst entdecken und dann fördern muss. Denn sie sind nun mal die Zukunft des Tanztheaters. Für sie gibt es hier in München das Projekt "Sphères", "Sphären", wo sie sich unter Anleitung eines erfahrenen Choreographen, einem Paten, ausprobieren können. Man muss ihnen die Chance geben, sich zu entwickeln; man muss ihnen die Möglichkeit geben, mit Ballettensembles arbeiten, die klassisch ausgebildet sind und trotzdem Zeitgenössisches abdecken können.
Michael Atzinger: Sie haben sich bestimmt schon einen intensiven Eindruck von der Münchner Compagnie verschaffen können: Was ist denn die besondere Qualität, was sind die Stärken dieses Ensembles?
Laurent Hilaire: Ihre Lust, ihre Neugierde, ihre Bereitschaft. Das sind Tänzer und Tänzerinnen, die weiterkommen wollen, die lernen wollen, die große Lust haben, das, was sie im Studio gelernt haben, auf der Bühne zu zeigen. Was ich hier auch erlebt habe: die Truppe unterstützt sich gegenseitig. Ich will jetzt nicht das Wort von der "Familie" überstrapazieren, da bin ich vorsichtig, es sind Kolleginnen und Kollegen …Aber sie haben eine ganz besondere Verbindung untereinander. Dieser Zusammenhalt ist stark ausgeprägt. Und auf diese Weise können sie auch als Ensemble auf der Bühne zeigen, was sie drauf haben.
Michael Atzinger: Sie haben selber auch unter Nurejew getanzt. Woran denken Sie zuallererst, wenn Sie an ihn zurückdenken?
Laurent Hilaire: Er war eine unglaubliche Persönlichkeit. Zu allem fähig, ein Freigeist, hoch intelligent – und für mich von entscheidender Bedeutung, denn er hat mich in Paris zum danseur étoile, zum Star gemacht. Ich habe lange mit ihm zusammengearbeitet und mir seine Lebensphilosophie abgeschaut. Er hat zu mir gesagt: Vom ersten bis zum allerletzten Schritt auf der Bühne will ich das Feuer in deinen Augen sehen. Du musst dir in jedem Augenblick bewusstmachen, was für ein außergewöhnlicher Ort die Bühne ist. Und das musst du auch zeigen. Er hat nie taktiert, hat sich nie geschont, er hat immer alles gegeben. Und er hat mir noch was beigebracht: Man ist zu mehr fähig, als man sich je hätte vorstellen können. Nur so wächst man über sich hinaus. Und das versuche ich heute auch meinen Tänzern zu sagen: Ihr schafft noch mehr. Ihr wisst es vielleicht noch nicht, aber es geht.
Michael Atzinger: Laurent Hilaire: Wir freuen uns sehr auf Ihre erste Saison, alles Gute für Sie und herzlichen Dank für das Gespräch.
Laurent Hilaire: Merci.
Sendung: "Allegro" am 6. März ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Montag, 06.März, 20:07 Uhr
Renate steidten
Glück gehabt!
Ich würde saen, das Staatsballett und die Fans desselben hatten großes Glück, Herrn Hilaire als Nachfolger von Igor Zelensky zu bekommen. Beide selbst großartige Tänzer, die das klassische Repertoire kennen und zu schätzen wissen, und sich beide weigern/weigerten, sich eine Dichotomie klassisch vs. modern aufoktroyieren zu lassen. [Unterschied: Herr Hilaire vermag das auch noch auszudrücken!] . Die wunderaren Tänzer*innen, die Herr Zelensky zu gewinnen wusste, scheinen sich mehrheitlich auch weiterhin hier gut aufgehoben zu fühlen, und mit dem neuen, sehr ymphatischen Direktor gewinnen wir neue (vielleicht u.a. etwas poetischere) Aspekte im Repertoire hinzu - yeah, yipih, wunderbar!