Peter Tschaikowsky war nicht oft zufrieden mit dem, was er komponiert hat. Das Ballett "Der Nussknacker" ist eine der wenigen Ausnahmen. Als Grundlage diente ihm E.T.A. Hoffmanns Erzählung "Nussknacker und Mausekönig": In der Geschichte erlebt das Mädchen Klara am Weihnachtsabend erst eine große Party mit vielen Gästen und dann, im Traum, eine abenteuerliche Reise ins Süßigkeitenland in Gesellschaft eines Märchenprinzen. Eine perfekte Geschichte für die Vorweihnachtszeit und die erste Ballettpremiere im frisch renovierten Gärtnerplatztheater.
Bildquelle: (c) Gärtnerplatztheater / Marie-Laure Briane
Die Kritik zum Anhören
Der Nussknacker ist so etwas wie die heilige Kuh unter den klassischen Balletten, weil da eine fantastische Geschichte von Hofmann auf großartige Musik von Tschaikowsky trifft, weil diese Kombination bis heute traumhaft gut funktioniert. An diesem Rahmen rüttelt Karl Alfred Schreiner auch nicht. Los geht der Abend im großbürgerlichen Ambiente bei Familie Stahlbaum: üppige Bücherregale, schnieke Schrankwand, ein funkelnder Weihnachtsbaum und eine herrliche Tapete mit passendem Muster: der Schattenriss einer Tanne, umrahmt von zwei Mäusen.
Das Orchester des Gärtnerplatztheaters unter Leitung von Kiril Stankow spielt haarscharf genau, die Bläser vermasseln keine einzige der hochsensiblen Stellen, kurzum: Aus dem Graben wabert, donnert, zirpt, schmettert Tschaikowskys abwechslungsreiche Musik. Das Theater glänzt frisch renoviert, den Tänzern steht - nach Jahren der Entbehrung in der Reithalle - eine richtige, eine tiefe Bühne zur Verfügung. Die Voraussetzungen sind also perfekt.
Szenenbild "Der Nussknacker" | Bildquelle: (c) Gärtnerplatztheater / Marie-Laure Briane Und doch will der Funke im ersten Akt nicht so richtig überspringen. Vielleicht ja, weil im buchstäblichen Sinne zu wenig gesprungen wird. Stattdessen schreiten die Tänzer in großen, tiefen Schritten, als müssten sie auf spiegelglattem Boden zum Zug eilen. Sie schlenkern schier pausenlos mit den Armen, kreisen mit den Schultern, schieben die Hüften vor. In der kraftvollen Musik von Tschaikowsky aber schrauben sich die Melodien häufig nach oben. Diese Energie der Musik findet nicht gar zu oft eine Entsprechung in der Choreographie. In der Kampfszene, wenn Mäuse gegen Zinnsoldaten antreten, schwillt das Orchester im Crescendo zum Fortissimo an, schreit quasi nach Action auf der Bühne. Dort aber hoppeln und wuseln schwarzgekleidete Kreaturen im Halbdunkel herum, an den Vorderpfoten dieser "Mäuse" blinken winzige rote Lämpchen, die man nicht einmal mit viel Fantasie als Laserschwerter durchgehen lassen könnte! Zu einer deftigen Schlacht mit Sieger und Verlierer, wie es die Musik so anschaulich, geradezu filmmusikalisch vorgibt, kommt es nicht.
Dafür zeigt Karl Alfred Schreiner immer wieder seinen Sinn für Humor: Wenn die Festgesellschaft wie irre ihre Geschenke aufreißt und nur Seidenpapier herausholt. Wenn das Trompetensolo im Orchester ein jaulendes Vorspiel auf der Bühne bekommt, weil ein Tänzer dem Instrument radebrechend ein paar Töne entlockt. David Valencia gibt einen prächtigen Trompeter ab im David Garrett-Outfit. An Ironie mangelt es Choreograph Schreiner ebenfalls nicht, wenn er eine schrullige Tante aus der Festgesellschaft reichlich dilettantisch klassische Ballettfiguren imitieren lässt. Wenn die Zwillinge mit zwitschernden Vogelpfeifen auf der Zunge eine heftige Auseinandersetzung darüber führen, mit welchem Mechanismus man das Orchester wohl zum Laufen bekommt. Wenn beim spanischen Charaktertanz einer der Tänzer kräht wie ein heiserer Gockel. Und damit sind wir auch schon im zweiten Akt.
Szenenbild "Der Nussknacker" | Bildquelle: (c) Gärtnerplatztheater / Marie-Laure Briane Klara, mädchenhaft mit Tendenz zur jungen Dame getanzt von Anna Calvo, reist mit ihrem Prinzen im Traum durch verschiedene Länder. Wie eine Kobra windet sich der Solist zu arabisch anmutenden Klängen, schlängelt sich über den Boden, vollführt zirkusreife Akrobatik, absolut im Einklang mit der Musik. Ein Eisbär und eine Babuschka poltern, galoppieren und stampfen im russischen Tanz und erinnern an zwei beduselte Kosaken. Wie eine Nummernrevue folgt nun ein feinsinnig ausgearbeiteter Charaktertanz auf den nächsten. Endlich darf getanzt werden. Allein beim berühmten Blumenwalzer macht sich noch mal kurz Holiday on Ice-Feeling breit, mit viel Flitterkram, Herumflitzen zwischen den lilafarbenen Säulen und weniger Fantasie in den Schrittfolgen. Insgesamt bekommt diese "choreographische Uraufführung" des Nussknackers, wie es so schön im Programmheft heißt, trotzdem im zweiten Akt die Kurve. Tschaikowskys Musik und die Bewegungen der Tänzer sind nun ebenbürtige Partner.
Das Publikum belohnt die Compagnie des Gärtnerplatztheaters mit tosendem Applaus und vielen Bravos.
Staatstheater am Gärtnerplatz
"Der Nussknacker" - Ballett
Choreographische Uraufführung
von Karl Alfred Schreiner
Musik von Peter I. Tschaikowsky
Musikalische Leitung: Kiril Stankow
Choreographie: Karl Alfred Schreiner
Bühne: Rifail Ajdarpasic
Kostüme: Ariane Isabell Unfried
Licht: Miachel Heidinger
Dramaturgie: David Treffinger
Weitere Infos und Termine: Gärtnerplatztheater München
Sendung: "Allegro" am 24. November 2017 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK