Klänge und bildende Kunst gehörten für Wassily Kandinsky zusammen. Mit einer App lässt sich nun ein Gemälde des Künstlers zum Klingen bringen, mithilfe von Künstlicher Intelligenz. "Gelb-Rot-Blau" heißt das Werk, das die App "Google Arts & Culture" erfahrbar macht, in Kooperation mit dem Centre Pompidou in Paris. Die Kunst-App kombiniert die Möglichkeiten eines digitalen Mediums mit dem Schatz an Kunstwerken aus aller Welt. Dort kann man auch einen Rembrandt auf dem Handy ranzoomen, bis man nur noch das Auge auf dem Bildschirm hat – oder virtuell durch die Alte Pinakothek schlendern.
Ich stehe, schaue und staune: Das ist Kunsterlebnis von gestern. Ich sitze, klicke und höre. Das ist die neue Kunsterfahrung. "Gelb Rot Blau": Das Gemälde von 1925 von Wassily Kandinsky klingt. Sagt mir die App im Jahr 2021, während mein Auge zwischen schwarzen Schlangenlinien, roten Rechtecken und pfirsichfarbenen Halbmonden pendelt. Nein, hier sehe ich keine zersägte Geige à la Picasso, auch keine "Nachtwache" von Rembrandt. Und doch klingt dieses geometrische Zickezacke!
Kandinsky braucht kein musikalisches Motiv, keine Fiedel, keine Trommel. Kandinsky tickt anders. Und genau dieses mehrdimensionale sinnliche Erleben von Farben macht die App "Play a Kandinsky" erfahrbar. Dafür müssen wir aber erst mal einen Schritt zurück treten. Macht man im Museum ja auch so.
"Gelb -Rot-Blau" von Kandinsky ist sowas wie der Allrounder der Moderne. Es hängt als Druck in Wartezimmern bei Zahnärzten, in Büros von Steuerberatern, in Kinderzimmern. Mit "Gelb-Rot-Blau" zeigt Kandinsky seinen unbedingten Willen zur Abstraktion. Und seinen Drang nach Klang: also das Bedürfnis, Töne, die er beim Malen hört, auch für andere hörbar zu machen. Als einer, der Farben hört, als Synästhetiker, hat er das Werk "Der gelbe Klang" herausgebracht. Er führte mit Freunden Farb-Klang-Experimente durch, in München und Murnau. Genau auf dieser synästhetischen Basis haben Computerspezialisten und Kunsthistoriker in Zusammenarbeit mit dem Centre Pompidou in Paris musikalische Loops zu "Gelb-Rot-Blau" kreiert, am Computer.
Mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz haben die Wissenschaftler sogar noch eins drauf gesetzt: Sie haben für alle klingenden Farbtöne, für alle Loops, emotionale Raster entwickelt. Für mich als Nutzer bedeutet das: Ich kann auf der App aus einer Liste mit verschiedenen Gefühlen zwei Gefühle auswählen. Zum Beispiel "entspannt und frech". Oder "wütend und ärgerlich". Auf dieser neuen emotionalen Basis klingt das Zusammenspiel der angeklickten Formen auf dem Gemälde "Gelb-Rot-Blau" plötzlich anders.
"Play a Kandinsky" eröffnet mit Sicherheit eine neue Dimension des Sehens, einen neuen Raum. Auch wenn der elektronische Sound der Loops bald etwas nervt. Und ich komme mir beim Herumklicken auch manchmal vor wie bei einem dieser modernen Kinderbücher, wo man neben das Abbild einer Kuh mit einem speziellen Stift tippen kann und dann beginnt das Tier zu muhen. Ziemlich gespannt warte ich trotzdem auf den Moment, an dem das Centre Pompidou in Paris wieder öffnet. Und ich mir dort das Original anschauen werde und in mich hineinlausche, ob von den farbigen Computerklängen noch irgend etwas nachhallt. Oder ob ich im Kopf nun eigene Farbklänge höre – irgendwo zwischen Gelb, Rot und Blau.
Sendung: "Allegro" am 25. März 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK