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Das Phänomen Synästhesie "Eine unheimlich attraktive Farbenwelt"

Ein Akkord wird blau, ein Klavierton zum Quadrat: Wer beim Musikhören Farben oder Formen sieht, wird als Synästhetiker bezeichnet. Etwa einer von tausend Menschen hat diese besondere Form der Wahrnehmung. Aber wie entsteht Synästhesie? Und was läuft in den Gehirnen von Synästhetikern anders ab? BR-KLASSIK hat mit Synästhetikern und Wissenschaftlern gesprochen.

Bildquelle: Nadja Pfeiffer / BR

Phänomen Synästhesie: Der Beitrag zum Anhören

Das Hören von Farben ist die häufigste Form von Synästhesie. Komponisten wie Olivier Messiaen oder György Ligeti waren Synästhetiker. Sie ließen diese seltene Veranlagung in ihre Arbeit beim Komponieren einfließen. Auch der Soloflötist des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks Henrik Wiese hört Farben. Den Ton a sieht er zum Beispiel rot, das d dunkelblau und das g hellblau. "Es fühlt sich an, als wenn ich in einer Kugel stehe und warmes, farbiges Licht von allen Seiten kommt. An diesen Farben erkenne ich die Töne".

Ein Klavierton als Quadrat

Henrik Wiese probt für das musica viva-Konzert am 15.11. 2013 | Bildquelle: Astrid Ackermann Henrik Wiese, Soloflötist beim BR-Symphonieorchester, hört Farben. | Bildquelle: Astrid Ackermann Jeder Synästhetiker sieht beim Musikhören allerdings etwas anderes. Einige nehmen dabei nicht nur Farben, sondern auch Formen wahr - so wie die Designerin Leonore Egbert.
Ein Klavierton wird für sie zum Quadrat. Bei einem nur leicht angeschlagenen Klavierton, bei dem noch ein Hall wegen des Pedal-Gebrauchs dazu kommt, verschwimmen die klaren Kanten:
"Das Quadrat wird fast zu einem Punkt, und dann löst es sich auf", so beschreibt die Designerin ihr besonderes Hörerlebnis.

Wenn Wein blau schmeckt

Synästhetiker erleben die Welt sehr viel bunter. Bei ihnen sind die verschiedenen Sinne wie Hören, Sehen, Riechen, Schmecken oder Fühlen sehr eng miteinander verknüpft. Deshalb nehmen sie einen Reiz aus der Umwelt häufig in mehreren Sinnesbereichen wahr. Wein schmeckt für Leonore Egbert beispielsweise blau. Wenn sie friert, fühlen sich ihre Hände weiß an und auch Buchstaben, Wochentage und Zahlen verbindet sie mit Farben.

Synästhesie ist keine Krankheit, sondern eine Normvariante.
Hinderk Emrich, Psychiater und Hirnforscher

Synästhetiker - was im Gehirn passiert

Synästhetiker fühlen sich oft unverstanden, weil kaum jemand ihre Art der Wahrnehmung teilen oder nachvollziehen kann. Hinderk Emrich ist Psychiater und Hirnforscher und hat sich als einer der ersten in Deutschland intensiv mit dem Phänomen Synästhesie beschäftigt. Dazu verglich er die Gehirnaktivität von Synästhetikern mit denen anderer Menschen. Über Kernspintomographie konnte er beobachten, dass bei Synästhetikern, wenn sie Musik hören, auch das Sehzentrum im Gehirn aktiviert wird -  selbst dann, wenn sie die Augen geschlossen haben. "Das Gehirn ist in gewissem Sinne anders innerlich verdrahtet", so Hinderk Emrich.

Diese Farben sind mein Kleinod. Ich trage sie im Herzen.
Henrik Wiese

Starke Emotionen

Die Ursachen von Synästhesie sind noch nicht geklärt. Vermutlich gibt es eine erbliche Komponente. Synästhesie tritt zudem häufiger bei Frauen als bei Männern auf. Verhältnismäßig oft kommt sie außerdem bei Linkshändern vor. Klar ist, dass Synästhetiker Musik viel emotionaler als andere erleben. Die Verbindungen zum sogenannten limbischen System, unserem Gefühlszentrum im Gehirn, sind wesentlich stärker. Der Flötist Henrik Wiese gibt sich überzeugt, dass seine Synästhesie mitverantwortlich gewesen ist für seine Entscheidung, Berufsmusiker zu werden. "Ich fühle mich zu dieser Farbenwelt unheimlich hingezogen", sagt Wiese.

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