Ein sensibler Einzelgänger, der von der Gesellschaft verstoßen wird - das ist die Geschichte von "Albert Herring". Der ungarische Regisseur Róbert Alföldi inszeniert Brittens Komische Oper in München. Mit BR-KLASSIK spricht er über Toleranz, tragische Komik und die politischen Probleme seines Heimatlandes.
Bildquelle: Wilfried Hösl
BR-KLASSIK: "Albert Herring", 1947 geschrieben, ist die einzige Komische Oper von Benjamin Britten. Es geht um die Gesellschaft und den Einzelnen, und wie er sich darin zurechtfindet - oder eben nicht. Ist das wirklich komisch oder nicht doch eher bitter?
Róbert Alföldi: Ich denke, auch diese Oper enthält beides: komische Elemente, aber auch bittere und tragische. Das ist nicht nur schwarz oder weiß. In komischen Stücken gibt es immer auch Tragisches, und auch im Tragischen Komisches. Wenn man die Geschichte von außen betrachtet, dann kann man vielleicht darüber lachen. Aber wenn man selbst die Person ist, die von der Gesellschaft ausgeschlossen wird, dann würde man vermutlich nicht darüber lachen.
BR-KLASSIK: Stichwort Toleranz: Warum tut sich die Gesellschaft grundsätzlich so schwer damit?
Róbert Alföldi: Wenn eine Gesellschaft nicht tolerant ist, dann liegt das meiner Meinung nach daran, dass sie frustriert ist. Sie kann dann ihre eigenen Probleme, die Schmerzen, die Frustrationen nicht verarbeiten und lösen und deshalb sucht und findet sie jemand anderen, der die Ursache für diese Probleme sein soll. Wenn eine Gesellschaft mit sich selbst im Frieden ist, dann wird sie nicht vor Unbekanntem Angst haben. Aber wenn dieser innere Friede nicht da oder gestört ist, dann empfindet sie das Unbekannte als etwas Feindliches. Und sie wird sich dann auch feindlich verhalten.
BR-KLASSIK: Während Ihrer Intendanz am Ungarischen Nationaltheater zwischen 2008 und 2013 herrschte ein Klima des freien Denkens und der offenen künstlerischen Auseinandersetzung. Haben Sie noch Kontakt zu Ihren Nachfolgern, wissen Sie, wie momentan dort die Stimmung ist?
Róbert Alföldi: Über meine Nachfolger dort möchte ich nichts sagen, das halte ich für keinen guten Stil. Über die ungarische Gesellschaft im allgemeinen würde ich sagen, dass sie die Erfahrungen der letzten 50 Jahre nicht verarbeitet hat. Sie hat sich mit den wichtigen und schwierigen Momenten nicht beschäftigt. Dadurch entsteht eine große Geschlossenheit, aber auch eine Verschlossenheit, eine starke Front, und es werden die Schuldigen oder die Verantwortlichen für die Nicht-Aufarbeitung außerhalb gesucht.
BR-KLASSIK: In Deutschland hat man den Eindruck von einem regelrechten Bollwerk um Viktor Orbán. Stimmt das oder ist es der Blick von außen, der oft nur die krassesten Stimmen zu Wort kommen lässt?
Róbert Alföldi: Ich denke, es ist sogar schlimmer. Unsere Regierung spricht gerne über die schönen Dinge, über das, was für die Menschen gut ist. Sie zielt sehr stark auf die Emotionen ab und vermeidet es, über die wahren Probleme, z.B. die wirtschaftlichen, zu reden. Es gibt in Ungarn viele Menschen, die arm sind. Aber die Regierung argumentiert da nicht sachlich, sondern schürt Emotionen. Es ist natürlich sehr einfach, den Leuten zu sagen, dass andere verantwortlich dafür sind, dass wir in Armut leben oder Probleme haben. Die Gelder allerdings, die von Europa nach Ungarn fließen - mit denen hat unsere Regierung kein Problem.
BR-KLASSIK: Nikolaus Bachler, Intendant der Bayerischen Staatsoper, glaubt nicht, dass Theater eins zu eins politisch wirkt. Man solle zwar in Inszenierungen Stellung beziehen, aber er glaubt nicht, dass das Theater eine politische Bildungsanstalt ist. Was denken Sie?
Róbert Alföldi: Wenn in Ungarn ein Theatermacher heute nicht sagt, dass alles schön ist, sondern wichtige und unangenehme Fragen stellt, dann ist das in den Augen unserer Regierung schon politisch. Ich denke aber: Jeder, der Kunst macht, muss sich mit diesen ganz wichtigen gesellschaftlichen und eben unangenehmen Fragen beschäftigen.
BR-KLASSIK: Wir sind uns hier in Deutschland einig, dass Kunst Fragen stellen muss. Kann man im Moment in Ungarn sinnvoll künstlerisch arbeiten?
Róbert Alföldi: Man kann in Ungarn auch im Moment sinnvoll künstlerisch arbeiten, aber nur an wenigen Plätzen. Und es ist grundsätzlich, sagen wir: kompliziert. Ich persönlich kann schon in Ungarn arbeiten, aber nur an zwei oder drei Häusern. Früher habe ich an vielen Theatern im Land erfolgreich Produktionen geleitet. Daraufhin wurde ich auch zuerst wieder eingeladen, bis dann der Bürgermeister der Stadt plötzlich die weitere Zusammenarbeit verboten hat. An den Häusern, die der Regierung sehr loyal zugetan sind, gibt es oft kein so gutes Theater. Aber es gibt glücklicherweise immer wieder auch positive Gegenbeispiele. Die meisten von uns versuchen eben, innerhalb des Systems ihren eigenen Weg für sich zu finden.
Das Interview führte für BR-KLASSIK Annika Täuschel.