Eine extreme und polarisierende Tanz-Performance am Gärtnerplatztheater: Die beiden isländischen Choreographinnen Erna Ómarsdóttir und Halla Ólafsdóttir zeigen Shakespeares Liebes-Tragödie als brutalen Abgesang auf Sexualität - der überzeugt.
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Urschrei-Therapie in Verona
"Romeo und Julia" als Tanzperformance am Münchner Gärtnerplatztheater
Shakespeare ahnte es, Sigmund Freud wusste es, Hollywood verfilmte es: Die westliche Gesellschaft wird an der Sexualität zu Grunde gehen, jedenfalls hat bisher noch keiner ein Gegenmittel gefunden. Stattdessen hagelt es #MeToo-Schlagzeilen, Skandale und Statistiken. Es tobt der Krieg der Geschlechter, es tosen die Gender-Debatten und Quoten-Scharmützel. So konsequent, so hart, so blutig wie gestern Abend am Münchner Gärtnerplatztheater wird das selten bebildert. Dabei konnten die Zuschauer eigentlich nicht überrascht sein: Die isländische Choreographin Erna Ómarsdóttir, übrigens eine Cousine von Björk, tanzte früher beim belgischen Brachial-Performer und Superstar Jan Fabre, bei dem sich nackte Darsteller in Olivenöl wälzen, auf der Bühne urinieren und härtesten SM-Sex andeuten mussten.
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Bildquelle: © Marie-Laure Briane Damit nicht genug: Im vergangenen September unterschrieb Erna Ómarsdóttir mit 19 anderen Betroffenen einen offenen Brief, wonach es bei Jan Fabre auch hinter der Bühne Psychoterror und Sexismus gegeben habe. Sex sei überhaupt die Währung gewesen, mit der gute Rollen bezahlt wurden. Jan Fabre hat das alles bestritten, aber Erna Ómarsdóttir und ihre isländische Landsfrau Halla Ólafsdóttir zeigen "Romeo und Julia" in München ganz eindeutig als Abrechnung und Abgesang auf die moderne, die gewalttätige Sexualität, die nach dieser Lesart längst nur noch schamlose Ausbeutung ist. Der Kapitalismus hat von der Liebe demnach allenfalls noch die Grundmauern stehen lassen.
Vor der Pause ist dieser Abend eine Art Urschrei-Therapie, nach der Pause ein Orgien-Mysterien-Theater, wie es vor Jahrzehnten die Wiener Aktionisten vorgeführt haben, also mit ganz viel Blut. Und damit auch die Zuschauer in den hinteren Reihen auf ihre Kosten kamen, gab es als Dreingabe einen Film, der in Großaufnahme zeigte, wie jemandem die Haut abgezogen wurde - scheinbar, denn tatsächlich löste da nur jemand seine verklebten Unterarme ganz langsam voneinander. "Ihhh, wie eklig", entfuhr es denn auch dem ein oder anderen Zuschauer, einige hatten in der Pause freilich schon die Flucht ergriffen. Zweifellos eine radikale, eine extreme Tanz-Performance, die das Gärtnerplatztheater herausbrachte: Jetzt, in der Vorweihnachtszeit, unter dem Titel "Romeo und Julia" sicherlich keine sonderlich glückliche Programmierung, dürften sich doch arglose Ballettfreunde einfinden, die von der Altersfreigabe "ab 17" sicher nicht irritiert sein werden, aber sein sollten.
Bildquelle: © Marie-Laure Briane Ja klar, es gibt eine "reduzierte Orchesterfassung" mit der Musik von Sergej Prokofjew, übrigens aufwühlend dirigiert von Daniel Huppert, aber mit der von Shakespeare bekannten Geschichte hat dieser Abend wenig zu tun. Es ist eher eine Art Obduktion, das Stück wird seziert - in Gewalt und Tod, in Glaube und Liebe, in Schweiß und Blut. Das Herz ist allgegenwärtig, mal als traurige Neonröhren-Kunst, mal als pochendes, rotes Organ, mal als schwarzes, vom Gift zerstörtes Leichenteil. Es sind große und grelle Bilder, mit Feuerspeiern, glitzerndem Goldvorhang, Riesen-Ventilatoren und Scheinwerfer-Batterien. Und wie sagt Erna Ómarsdóttir im Programmheft? Schreien hat eine "reinigende, heilende Wirkung"! Sie selbst kann nicht gut singen, macht es aber dennoch mit Leidenschaft, gegen den Rat ihrer Mutter. Rebellion als Therapie. Bei denen, die über die gut zwei Stunden blieben, sorgte das für Begeisterung, es gab einige wenige, wenn auch sehr deutliche Protestrufe.
Weitere Vorstellungen:
25.11.2018, 09./18./26.12.2018, 06./12./16./24./01.2019
Weitere Infos finden Sie auf gaertnerplatztheater.de
Rollen passten natürlich nicht in dieses Konzept, also stellte sich die gesamte zwanzigköpfige Compagnie am Beginn vor dem Vorhang auf und erklärte kurz, was wer spielte, nämlich quasi alles. So fanden sich zig Romeos und Julias, die miteinander und gegeneinander tanzten, keuchten, kämpften, hüpften, sprangen und rutschten. Das hatte was von antiken Kriegern, die sich für eine Schlacht aufwärmen, ein athletisches Motiv, das auch bei Jan Fabre immer wieder vorkommt. So sprechen sich urtümliche Eingeborene selbst Mut zu, feuern sich an, stacheln sich auf. Lauter Allegorien, lauter Sinnbilder für Kraft, Ausdauer, Hass, Schikane, Macht, Unterwerfung. Dieser Abend wird in Erinnerung bleiben und er wird das Publikum polarisieren. Gleichwohl eine mutige, erstaunliche, engagierte und verstörende Ensemble-Leistung und ein Triumph für die wirklich unerschrockenen Isländerinnen Erna Ómarsdóttir und Halla Ólafsdóttir.