BR-KLASSIK

Inhalt

Simon Rattle dirigiert Bachs Matthäus-Passion Mount Everest und Privileg

Simon Rattle eröffnet die Saison 2024/25 beim BRSO im Herkulessaal der Münchner Residenz mit Bachs Matthäus-Passion. Im Interview mit BR-KLASSIK spricht er über Schwierigkeiten und Faszination dieses einzigartigen Werkes.

Pausengespräch: Mit Sir Simon Rattle

Your browser doesn’t support HTML5 video

Bildquelle: Thomas Rabsch / Warner Classics

BR-KLASSIK: Sir Simon, können Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit der Matthäus-Passion erinnern? 

Sir Simon Rattle: Ich habe die Matthäus-Passion das erste Mal als Kind gehört, wirklich als Kind von neun oder zehn Jahren. Das war in der Kathedrale in Liverpool, die eine außergewöhnliche gotische Schöpfung ist. Ich erinnere mich, wie absolut endlos mir die Musik erschien – sehr beeindruckend. Aber damals wurde halt jedes Achtel im Eingangssatz ausdirigiert. Was heute vielleicht sechs Minuten dauert, das müssen damals mindestens zwölf gewesen sein. So war das damalige Verständnis: als Monumentalwerk. Obwohl ich meine ganze Jugend hindurch als Cembalist viel Barockmusik gespielt habe, habe ich sie als Dirigent zunächst ganz bewusst gemieden. Und das hatte seinen Grund: Wenn du als Dirigent keine Angst vor der Matthäus-Passion hast, solltest du besser einen anderen Beruf wählen. Ich habe Jahre gebraucht, bis ich das Gefühl hatte: Jetzt darf ich meine Füße in diese Bach-Gewässer setzen. Ganz ehrlich: Das verdanke ich meiner Freundin, einer der beiden Labèque-Schwestern aus dem Klavierduo. Die hat mich eines Tages damit konfrontiert und gesagt: Jetzt komm schon, sei nicht albern – du musst das jetzt tun, an diesem Punkt in deinem Leben. Du musst riskieren, in den Spiegel Bachs zu schauen. So hat es angefangen.  

Du wirst vielleicht in den Spiegel sehen und etwas erfahren, was du nicht wissen wolltest
 Sir Simon Rattle

Wir haben uns heute mit den Sängern unterhalten, um festzustellen: Gibt es irgendein anderes Stück, das uns so schnell und so oft zu Tränen rührt? Vermutlich nicht. Der Chor hat sechs Wochen daran gearbeitet hat, um alles zu memorieren. Da hieß es: Wir verstehen jetzt, wie es ist, wenn einen die Tränen überkommen. Sie gehen dann einfach ein paar Minuten raus, um sich zu sammeln, und arbeiten dann weiter. Und beim Orchester haben wir das ebenso beobachtet. Es hat bei uns allen einen tiefen Eindruck hinterlassen, während wir an dem Stück gearbeitet haben.  

Ganz ehrlich: diese Musik lässt nichts anderes zu, als ehrlich zu sein. Du wirst – wie meine Freundin Katja Labèque sagte – vielleicht in den Spiegel sehen und etwas erfahren, was du nicht wissen wolltest. Aber das Stück macht unser aller Leben besser. Es gibt Leute –Marco Postinghel, unser Solo-Fagottist zum Beispiel– der es über 60 Male gespielt hat. Thomas Reif dagegen, der unser zweites Orchester als Konzertmeister anführt, hat es noch nie gespielt. Georg Nigl, unser Christus, hat bisher weder die Arien, noch den Christus gesungen. Es ist also eine echte Mischung aus Leuten, die es noch nie gespielt haben, für die es eine außergewöhnliche Erfahrung ist, und Leuten, die es schon oft gespielt haben und für die es ebenso eine außergewöhnliche Erfahrung ist.  

Du nimmst solch ein Stück niemals für gegeben. Nach all den Erfahrungen, die wir mit dem Stück gemacht haben, wirkt es nur umso gewichtiger und scheint noch eindringlicher zu uns zu sprechen. Es ist eine Entdeckungsreise, ein Mount Everest – und ein Privileg. 

BR-KLASSIK: Sind es bei Ihnen immer andere Stellen, an denen Ihnen vielleicht die Tränen kommen? Oder sind das immer ähnliche Choräle oder musikalische Momente?  

Sir Simon Rattle: Du weißt nie, wann das passieren wird... oder eigentlich doch: Es passiert immer beim "Erbarme Dich". Aber es gibt auch andere Stellen, Stellen der schieren Freude. Ich meine, die schiere Freude, wenn Camilla Tilling mit den Oboen singt, wenn sie sich ihnen mittendrin anschließt. Das geht einem durch und durch. Das Stück kann einen überraschen, sehr oft sogar. Das Faszinierende ist, den jeweiligen Charakter mitzuentscheiden. Erst neulich habe ich mit John Eliot Gardiner korrespondiert, der schon immer einer meiner Bach-Helden war. Natürlich hat er das Stück schon so oft durchlebt und sagt: Eigentlich ist es unaufführbar. Und du wirst jedes Mal auf andere und hoffentlich bessere Weise scheitern. 

Aber wenn jeder auf seinem Posten ist –alle vier Takte treten zum Beispiel im Chor andere Leute auf– muss man die richtigen Farben zu finden, die alles verdeutlichen. Es gibt zwei Choräle, sehr kurz vor dem Tode Jesu. In einem davon handelt es sich augenscheinlich um Touristen, die einfach nur zum Schauen gekommen sind, was da passiert: "Oh, wunderbar! Eine Kreuzigung, da gibt’s was zu sehen!" Unmittelbar gefolgt von Dick Cheney oder Mike Pompeo und ähnlichen politischen Schwergewichten: "Er sagt, er könne andere Menschen retten. Doch nicht einmal sich selbst?!" Sobald man weiß, wer diese Charaktere sind, hilft das eine Menge. 

BR-KLASSIK: Es ist auf jeden Fall ein theatralisches Stück. Obwohl der Rat der Stadt Leipzig zu Bach ja gesagt hat, er solle bloß keine Oper schreiben!  

Sir Simon Rattle: Ja, das stimmt, und obwohl Bach gesagt hat, dass er nicht fürs Theater schreibt: Alle seine Vorgesetzten haben es gehasst – natürlicherweise. Sie haben sich gefragt, wo sie hier eigentlich sind. Die Sache ist: Das Theater der Effekte und der Schminke ist hier nirgends anzutreffen. Aber es ist eine Zeremonie, ein Ritual. Es erzählt eine Geschichte, eine Geschichte in der Erinnerung. Es fühlt sich oftmals an wie eine Gruppe von Leuten, die zusammenkommt, um zu diskutieren, was das gewesen ist. Das Stück hört nicht auf, dir zu erzählen, wie man mit einem Verlust zurechtkommt, sein Leben weiterlebt. Auf diese Weise ist es recht diskursiv und hält inne, um zu reflektieren. Ganz gleich, ob du gläubig bist oder nicht. Es kreiert eine Atmosphäre von solch purer Ehrlichkeit. Dem kann man nicht widerstehen.  

BR-KLASSIK: Was für eine Rolle spielt die Religiosität für den Zugang, auch bei Ihnen ganz persönlich. Ist das auch in gewisser Weise ein religiöser Zugang, den Sie zu dem Werk haben? 

Sir Simon Rattle: Es kommt darauf an, ob man religiös ist oder nicht. Ich glaube wirklich an Bach. In diesem Moment musst du diese ganze Geschichte in dich aufsaugen. Irgendwie geht es auch kaum anders. Für denjenigen, der gläubig ist, muss das eine ganz andere Sache sein. Nicht unbedingt eine größere. Ich denke, es ist ein Stück, das Menschen miteinander verbindet. Und das ist, würde ich fast sagen, ein noch größerer Glaube. 

BR-KLASSIK: Für viele Menschen ist das Werk natürlich unmittelbar verbunden mit Karfreitag oder zumindest den Tagen vor Ostern. Da ist es manchmal sogar eine Art Gottesdienstersatz. Jetzt spielen Sie es losgelöst von irgendwelchen kirchlichen Festen: Spielt es für Sie eine Rolle, wann es aufgeführt wird? 

Sir Simon Rattle: Nein. Das muss eine besondere Sache sein – wie John Eliot es beispielsweise getan hat– die Kantaten in jeweils der Jahreszeit zu spielen, für die sie geschrieben wurden. Aber das ist keine Notwendigkeit. Ich finde nicht unbedingt, dass es Beethovens 9. Symphonie geholfen hat, jeweils zu Neujahr gespielt zu werden, zum Beispiel.  

Dieses Stück hat natürlich eine gewisse zeitliche Verknüpfung. Aber das gilt vor allem für denjenigen, der gläubig ist. Es ist schon etwas Wundervolles, eine Passion in dieser Zeit zu hören.  

BR-KLASSIK: Sie haben schon beschrieben, wie monumental Ihre erste Matthäus-Passion klang, die Sie als Kind in Liverpool gehört haben. Wir sind ja die Stadt Karl Richters hier in München, der in seinen Bach-Interpretationen ganz breite Tempi hatte. Da hat sich dann im Laufe der Zeit durch Leute wie John Eliot Gardiner oder Nikolaus Harnoncourt sehr viel getan.

Sir Simon Rattle: Als ich das erste Mal dieses Stück in historischer Aufführungspraxis gehört habe, hörte ich mich selbst sagen: "Ja!" Aber es gibt da viele Möglichkeiten. Und niemand – Bach eingeschlossen – würde sagen, es gibt nur eine richtige Weise, das umzusetzen. Ich habe den wundervollen und sehr vermissten Nikolaus Harnoncourt das immer wieder auf so viele verschiedene Arten spielen hören. Denn das ist der Punkt: Es entwickelt sich einfach weiter und spricht auf so viele verschiedene Arten zu uns. Karl Richter war eine unglaublich wichtige Person in der Geschichte des Stücks. Man kann sein tiefes Wissen und seine Liebe gar nicht genug betonen. Aber ich bin wahrscheinlich nicht der einzige Musiker, dem heute schwerfällt, vieles davon anzuhören. Dennoch realisiert man, was für eine außergewöhnliche Figur er darstellt. Und da sind wir heute: Musik bewegt sich fort und spricht Menschen auf unterschiedliche Weise und in verschiedenen Zeiten an. 

BR-KLASSIK hat das das Konzert am Freitag, 27. September, ab 18:05 Uhr live im Radio übertragen.