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Premierenkritik "Lulu" an der Bayerischen Staatsoper

Lulu trägt weiß. Das Weiß der Unschuld? Marlis Petersen in der Titelrolle sieht fantastisch aus damit. "Wenn sich die Menschen um meinetwillen umgebracht haben, so setzt das meinen Wert nicht herab", singt Lulu selbstbewusst, kurz bevor sie den einzigen Mann erschießt, den sie liebt. Regisseur Dmitri Tcherniakov ist weit entfernt davon, diese Frau zu verklären. Nein, Lulu ist natürlich nicht unschuldig – sie kann es schon deshalb nicht sein, weil sie bei Tcherniakov um keinen Preis bloß passives Objekt sein will. Weiß trägt sie aus einem andern Grund: Es ist das Weiß des leeren Blatts, das Weiß einer Projektionsfläche. Lulu weckt Begehren, weil Männer und Frauen in ihr das sehen, was sie sehen wollen. Und dieses Begehren ist unstillbar, weil sie sich allen Zuschreibungen konsequent entzieht. Jede Deutung gleitet an ihr ab, jeder Versuch, sie in Besitz zu nehmen, scheitert – bis zum Schluss.

Das Einheits-Bühnenbild, das Dmitri Tcherniakov selbst entworfen hat, ist betont unspektakulär: ein gläsernes Labyrinth, streng gerastert, gelegentlich ein paar weiße Stühle, das ist alles. Ein Spiegelkabinett, in dem sich die Menschen in ihren eigenen Projektionen verirren. Schon aus akustischen Gründen kann immer nur vor diesen gläsernen Wänden gesungen werden – zum Spielen steht also nur die Vorderbühne zur Verfügung. Und so steht und fällt der Abend mit der Personenregie. Er steht, denn Tcherniakov hat ein sängerisch wie schauspielerisch erstklassiges Ensemble zur Verfügung. Allen voran Marlis Petersen, groß und schlank, eine Frau mit ebenso viel Appeal wie natürlicher Autorität.

Am Schluss nimmt sie Jack the Ripper, dem Serienmörder, der ihr letzter Liebhaber ist, das Messer aus der Hand und ersticht sich selbst. Sogar von Jack the Ripper lässt Lulu sich nicht zum bloßen Objekt degradieren – sie ist es, die handelt und ihrem Mörder zuvorkommt. Keiner darf sie besitzen. Auch Regisseur Tscherniakov zwingt dieser Figur keine vordergründige Deutung auf. So entgeht er den beiden Lulu-Klischees, die den Text oft genug ein wenig abgenutzt wirken lassen: Weder wird eine sogenannte „femme fatale“ als angebliche „Urgestalt des Weibes“ vorgeführt, wie es im Prolog heißt. Noch wird umständlich zum 100. Mal die Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft entlarvt. Stattdessen geht es Tcherniakov in seiner ebenso zurückhaltenden wie stimmigen Lesart um das Rätsel des Begehrens selbst: Warum bloß wollen die Menschen immer ausgerechnet das besitzen, was sie nicht haben können? Eine Antwort darauf hat er natürlich nicht, die gibt es nicht und die braucht es an diesem Abend auch nicht – schon allein wegen der hypnotischen Musik Alban Bergs.

Kirill Petrenko | Bildquelle: Wilfried Hösl Bildquelle: Wilfried Hösl Jugendlich, fokussiert, leicht, beweglich und doch mit femininer Fülle – Marlis Petersen ist eine überragende Lulu. Stimmlich, vor allem in der Tiefe, nicht ganz ebenbürtig, aber mit beeindruckender Bühnenpräsenz überzeugt Bo Skovhus als Dr. Schön und Jack the Ripper. Matthias Klink singt den Alwa lyrisch-stimmschön und glaubhaft verliebt, Pavlo Hunka den Schigolch, diesen lässig-ganovenhaften alten Sack, mit charaktervollem Bass. Daniela Sindram zeichnet mit ihrem warmen, etwas rauchigen Mezzosopran die lesbische Gräfin Geschwitz als ebenso selbstlos wie hoffnungslos Liebende. Und wieder ist es Kirill Petrenko, der letztlich den Abend trägt. Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll: Das sichere Handwerk, das alle Beteiligte souverän durch diese hyperkomplexe Partitur lotst? Die Durchsichtigkeit des Klangs? Das geradezu kammermusikalische Miteinander, das die wunderbare Farbigkeit von Bergs Orchester wie in einem Kaleidoskop entfaltet? Egal, Petrenko, dieser kleine Mann mit der großen Konzentration und der kontrollierten, aber ansteckenden Leidenschaft, lässt alle über sich hinauswachsen.

"Lulu" von Alban Berg an der Bayerischen Staatsoper

Neu inszeniert von Dmitri Tscherniakov
Kirill Petrenko dirigiert das Bayerische Staatsorchester

Lulu: Marlis Petersen
Dr. Schön / Jack the Ripper: Bo Skovhus
Schigolch: Pavlo Hunka
Alwa: Matthias Klink

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