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Sidi Larbi Cherkaoui zu Glucks "Alceste" "Singen ist an sich schon eine Choreographie"

Sidi Larbi Cherkaoui ist Choreograph, aber auch Regisseur. Vor einigen Jahren machte er an der Bayerischen Staatsoper bereits mit Jean-Philippe Rameaus "Les indes galantes" Furore. Jetzt inszeniert er für das Haus Christoph Willibald Glucks Oper "Alceste". Premiere ist am 26. Mai – dem Tag der Europawahl. Cherkaoui glaubt an die europäische Idee, wie er im Interview erzählt. Wie er allerdings den Schluss der "Alceste" gestalten wird, das verrät er noch nicht.

Bildquelle: © W. Hösl

BR-KLASSIK: Herr Cherkaoui, wenn Sie Glucks Musik hören: Was sagt Ihnen die, welche Gefühle löst sie bei Ihnen aus?

Sidi Larbi Cherkaoui: Für mich hat diese Musik etwas Rituelles. Und man fühlt sich wie auf einer musikalischen Reise. Selbst in einer statischen Situation – zum Beispiel, wenn der drohende Tod des Königs betrauert wird – entsteht der Eindruck einer fortlaufenden Entwicklung.

Eine ganz klare Einstellung

BR-KLASSIK: Auffällig ist in diesem Stück, dass Apollo und die Götter überhaupt grausam und unmenschlich auftreten, oder?

Sidi Larbi Cherkaoui: Das kommt auf die Perspektive an. Eigentlich geht es hier um eine ganz klare Einstellung: Wenn es Zeit ist zu sterben, muss man gehen. Wir wollen heute ewig leben. Wir versuchen, den Tod sozusagen auszuschalten. Die Götter gehen hier ganz logisch vor: "Wenn Du weiterleben willst, muss eben jemand anderes für Dich sterben". Deswegen sind sie aber nicht grausam. Sie wissen, dass der Tod zum Leben gehört. Sterben ist etwas Selbstverständliches.

Die Menschen sollten von den Göttern lernen in dieser Oper.
Sidi Larbi Cherkaoui

BR-KLASSIK: Die Götter sind also einfach nur realistisch?

Der Komponist Christoph Willibald Gluck | Bildquelle: picture alliance/Keystone Sidi Larbi Cherkaoui: Ja, irgendwie schon. Sie zeigen uns damit auch, dass man ein Leben für ein anderes eintauschen kann – egal ob es sich dabei um eine Frau oder einen Mann handelt. Für die Götter ist Alcestes Leben gleich viel wert wie Admètes Leben, aber das Volk trauert mehr um seinen König Admète als um seine Königin Alceste. Das sagt uns, dass die Menschen in dieser Hinsicht von den Göttern lernen sollten in dieser Oper.

BR-KLASSIK: Wird es Glucks Happy End bei Ihnen geben?

Sidi Larbi Cherkaoui: Das weiß ich noch gar nicht – es ändert sich ständig (lacht). Wenn nur eine Kleinigkeit anders ist, verändert sich die ganze Geschichte. Es soll eine Überraschung sein.

BR-KLASSIK: Es kommt Ihnen als Choreograf sicher entgegen, dass "Alceste" – zumal in der französischen Fassung – viel Ballett enthält?

Sidi Larbi Cherkaoui: In diesen Opern gibt es interessanterweise immer wieder viel Raum für Bewegung. Als zeitgenössischer Choreograph wie auch als Regisseur finde ich es faszinierend, dass diese Ballette sowohl als Motor zur Weiterentwicklung der Geschichte fungieren können wie auch als Momente der Reflexion. Mit Reflexion meine ich Kontemplation, also Augenblicke, in denen man zum Beispiel am Meer sitzt und über die Welt nachdenkt. Meine Choreografie soll genau solche Momente des Innehaltens schaffen, bevor die Geschichte weitergeht.

Ich finde die Musik in dieser Oper sehr spannend.
Sidi Larbi Cherkaoui

BR-KLASSIK: Andererseits ist "Alceste" recht handlungsarm. Besteht da die Gefahr, dass es langweilig wird auf der Bühne?

Sidi Larbi Cherkaoui: Ich finde die Musik in dieser Oper sehr spannend. Selbst wenn die Handlung sehr reduziert ist, finde ich in der Musik genügend Impulse, um eine gewisse Dynamik hineinzubringen. Wenn man der Musik zuhört, wird es nie langweilig.

Dirigent als Partner

Choreograph und Regisseur Sidi Larbi Cherkaoui | Bildquelle: © Tilo Stenge BR-KLASSIK: Bei ihrer "Alceste"-Produktion sind wieder Tänzerinnen und Tänzer aus Ihrer eigenen Eastman Company dabei – wie gehen Sie mit den Sängerinnen und Sängern um?

Sidi Larbi Cherkaoui: Ich habe versucht, sie möglichst oft zu sehen, um ihre Körpersprache zu verstehen. Ich arbeite dabei mit ihrer alltäglichen Körpersprache: Wenn jemand sehr viel mit den Händen gestikuliert, setze ich das ein. Wenn jemand sich eher ruhig verhält, versuche ich das beizubehalten. Ich möchte, dass die Sänger sich völlig natürlich geben. Mein Ausgangspunkt sind ihre Vorstellungen und Absichten. Wenn sie eine Geste brauchen, dann füge ich sie hinzu. Wenn nicht, lasse ich es bleiben.

BR-KLASSIK: Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Antonello Manacorda?

Sidi Larbi Cherkaoui: Auch er ist ein wunderbarer Beobachter von Bewegung. Er ist ein sehr visuell orientierter Dirigent, das ist wirklich toll. Antonello ist für mich als Regisseur so etwas wie ein Partner. Er versteht die Geschichte ganz genau und weiß, wann sich die Musik verändert.

Singen an sich ist ja schon eine ganze Choreographie.
Sidi Larbi Cherkaoui

BR-KLASSIK: Sie haben ja jetzt schon mehrfach Oper inszeniert – wie ist es überhaupt für Sie als Choreograf, mit Opernsängern zu arbeiten?

Sidi Larbi Cherkaoui: Singen ist ja auch etwas sehr Physisches. Man öffnet den Mund, der Gaumen muss nach oben, das Zwerchfell wird angespannt, und die Lungen öffnen sich. Singen an sich ist ja schon eine ganze Choreographie. Und wenn man Oper singt, muss man sein Instrument vollkommen beherrschen. Für mich tanzen Sänger auch, weil in ihnen diese ganzen Bewegungen ablaufen, um einen Klang hervorzubringen.

Glaube an die europäische Idee

BR-KLASSIK: Die Premiere findet ausgerechnet am Tag der Europawahl statt – was bedeutet Europa für Sie und Ihre multikulturelle Arbeit?

Sidi Larbi Cherkaoui: Für mich liegt die Stärke Europas auch in der Koexistenz unterschiedlicher Sprachen. Jeder von uns kann seine Sprache sprechen, und trotzdem finden wir Wege der gegenseitigen Verständigung. Wir müssen begreifen, dass es einfach Zeit braucht, um andere Sichtweisen nachzuvollziehen. Europa gibt uns die Möglichkeit, zueinander in Beziehung zu treten. Wir leben heute in einer so unmittelbaren Welt. Alles wird sofort getwittert. In gewisser Weise ist das nicht gut – wir brauchen Zeit zum Nachdenken. Eine schnelle Reaktion kann vielleicht ehrlich sein, aber bestimmt nicht tiefgründig. Man muss sich Zeit füreinander nehmen. In dieser Hinsicht glaube ich fest an die europäische Idee. Weil wir mit viel Zeit lernen können, uns gegenseitig zu verstehen.

Sendung: Glucks "Alceste" live aus dem Münchner Nationaltheater am 26. Mai 2019 ab 17.30 Uhr auf BR-KLASSIK

"Alceste" in München

Christoph Willibald Gluck:
"Alceste"
Tragédie-opéra in drei Akten (1767 / 1776, Pariser Fassung)

Inszenierung: Sidi Larbi Cherkaoui
Chor und Orchester der Bayerischen Staatsoper
Leitung: Antonello Manacorda

Informationen zu Terminen und Vorverkauf finden Sie auf der Homepage der Staatsoper.