BR-KLASSIK

Inhalt

Interview Valery Gergiev "Die Politiker machen furchtbare Fehler"

Am 17. September 2015 stand Valery Gergiev zum ersten Mal als neuer Chefdirigent am Pult der Münchner Philharmoniker. Im Interview mit BR-KLASSIK sprach er vorab nicht nur über sein Antrittskonzert mit Gustav Mahlers "Auferstehungssymphonie", sondern auch leidenschaftlich über die aktuelle Flüchtlingsproblematik.

Valery Gergiev | Bildquelle: LSO / Alberto Venzago

Bildquelle: LSO / Alberto Venzago

BR-KLASSIK: Herr Gergiev, am Donnerstag werden Sie Ihr Antrittskonzert bei den Münchner Philharmonikern dirigieren. Sie haben sich dafür Mahlers Zweite ausgesucht. So ein Programm überlegt man sich wahrscheinlich sehr genau. Warum gerade dieses Werk?

Valery Gergiev: Es gibt keinen genialeren Komponisten als Mahler. Er war mit der Stadt München eng verbunden und hat einen starken Einfluss auf die musikalische Entwicklung der Stadt und ganz Europas ausgeübt. Außerdem ist das Stück sehr geeignet für den Gasteig. Man hat Gesangssolisten, einen großen Chor, ein großes Orchester mit Musikern hinter der Bühne. Es ist ein Werk von epischem Umfang mit eindrucksvollen Effekten und einer unglaublichen dynamischen Bandbreite. Und es geht darin um die Überlegenheit und die Tiefe des menschlichen Geistes. Das ist das wichtigste.

BR-KLASSIK: Mahler war ein gläubiger Mensch, aber auch ein großer Zweifler. In der Zweiten Symphonie, der "Auferstehungssymphonie", geht um das Leben nach dem Tod. Darf ich Ihnen die persönliche Frage stellen: Sind Sie ein religiöser Mensch?

Valery Gergiev: Ich finde es nicht passend, darüber in einem Interview zu sprechen. Auf mich wirken Menschen, die das tun, ein wenig seltsam. Aber ich will trotzdem auf Ihre Frage antworten: Ja, ich habe einen großen Teil meines Lebens damit zugebracht, meinen persönlichen Göttern zu dienen, wenn ich das so ausdrücken darf. Ein Teil davon ist mein Glaube an die Macht der Musik. Aber es gibt auch einen Teil meines Glaubens, der darüber hinausgeht. Ich komme aus einem komplizierten Teil der Welt. Ich bin zwar in Moskau geboren, aber im Kaukasus aufgewachsen. Dort ist man wegen der hohen Berge Gott vielleicht etwas näher. Man betrachtet den Himmel anders. Die Berge sind dort viel höher als in den Alpen. Von unserem Haus aus konnte ich den höchsten Punkt Europas sehen – er liegt bei 5633 Metern. Meine Kindheit und meine Erziehung waren stark von Traditionen geprägt, auch von den religiösen Traditionen meiner Heimat. Mein Vater hat zu Beginn jeder Mahlzeit einen Trinkspruch gemacht, nicht an seine Kinder gerichtet, sondern an Gott, den Vater aller Dinge. Jetzt widerspreche ich mir gerade selbst, denn ich wollte das ja eigentlich gar nicht erzählen. Für mich ist das jedenfalls etwas sehr Persönliches.

BR-KLASSIK: Nun treten Sie Ihr Amt hier in München an. Es hat darum ja viele Diskussionen gegeben. Als die Kritik aufkam an ihrer Haltung zu Vladimir Putin und der Frage, wie man in Russland mit Homosexuellen umgeht, haben Sie gesagt, dass Sie in einen Dialog mit Ihren Kritikern treten wollen. Wie soll das konkret aussehen und was erhoffen Sie sich davon?

Valery Gergiev: Zunächst einmal glaube ich nicht, dass man noch darüber diskutiert. Die Welt verändert sich schnell. Selbst die Ukraine spielt im Moment keine so wichtige Rolle, nicht einmal für die Russen. Auch die Russen verbringen im Augenblick viel mehr Zeit damit, die Nachrichten über die Flüchtlinge zu verfolgen und die Ereignisse in Südeuropa, Italien und Griechenland zu diskutieren. Und jetzt auch in Bayern. Einem so enormen Zustrom von Flüchtlingen wird sich niemand entziehen können. Alle, die noch glauben, sie könnten es, werden Überraschungen erleben.

BR-KLASSIK: Sehen Sie das eher als Bedrohung? Es gibt ja auch die Idee, dass es eine Bereicherung sein könnte. Und es gibt den humanitären Aspekt.

Valery Gergiev: Der humanitäre Aspekt ist der wichtigste. Wir Künstler reagieren darauf auf unsere Weise. Wir widmen unsere Konzerte, wir sammeln Geld, wir spenden. Ich weiß nicht, wie Gustav Mahler reagiert hätte, wenn er jetzt hier wäre. Aber ich mache mir große Sorgen um die Stabilität unserer politischen Elite, des sogenannten politischen Clubs. Hier geht es um ein Ensemble. Wie in der Musik. Menschen spielen zusammen, sie gehen Verträge ein, sie hören sich gegenseitig zu. Wenn man das tut, kann man wunderbare Ergebnisse erzielen. Zur Zeit scheint es jedoch äußerst schwierig zu sein, dass die Politiker es schaffen, sich zu einem Team zusammenfinden. Bitte verstehen Sie das nicht als düstere Prophezeiung. Ich denke aber, dass die westlichen reichen Staaten in Europa sicherlich großzügig sein, aber auch sehr vorsichtig handeln müssen, um ihre besten Traditionen und ihre Stabilität zu bewahren.

BR-KLASSIK: Sehen Sie das denn in Gefahr?

Valery Gergiev: Ich weiß, Ihre Kanzlerin tut das Beste dafür. Die Menschen können sehen, welch hohen Wert es hat, Flüchtlingen zu helfen. Aber wo kommt diese Flut von Menschen her innerhalb von zwei Wochen? Das gab es seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr. Man fängt an zu mutmaßen: Ist das spontan? Steckt da ein diabolischer Plan dahinter? Es ist zu umfangreich, um spontan zu sein. Und außerdem ist es spontan unmöglich zu organisieren. Lassen Sie mich einen dummen Vorschlag machen: Auch in Afrika gibt es viele Probleme. Warum bitten wir nicht alle Afrikaner, nach Europa zu kommen? Das ist idiotisch, aber was ist der Unterschied? Wenn es jetzt Tausende in wenigen Wochen sind, dann haben wir in fünf Monaten eine Masse ähnlich der Bevölkerung von Afrika. Sie müssen darauf achten, Ihre Identität zu behalten. In Russland hatten wir eine wesentlich problematischere Zeit als die Deutschen. Vor 20, 25 Jahren war das. Dann wurde alles stabiler, dank Wladimir Putin. Viele Russen verbinden Stabilität mit Putin, mit dem ich persönlich bekannt bin. Ich finde, die Menschen sollten nicht über ihn sprechen, ohne vorher einmal in Russland gewesen zu sein. Ich spreche hier als ein Freund der Deutschen. Ich habe viele wunderbare Freunde in Deutschland, auch in Amerika. Aber wir leben in einer verzerrten Welt, sie ist verzerrt in den Köpfen der Menschen, weit entfernt von der Realität.

BR-KLASSIK: Herr Gergiev, wenn Sie in Diskussionen verteidigt werden, dann heißt es immer wieder, man solle einen Künstler nicht mit politischen Argumenten kritisieren. Aber ich habe den Eindruck, dass Sie selbst sehr gerne und leidenschaftlich über Politik reden. Sehen Sie sich als politischen Menschen? Fühlen Sie sich vielleicht sogar in der Pflicht, sich politisch zu engagieren?

Valery Gergiev: Es wäre völlig falsch, zu glauben, dass das politisch ist, worüber wir gerade sprechen. Menschliche Tragödien sind nichts Politisches. Zuerst macht die politische Elite unglaubliche Fehler. Daraus entstehen wachsende Gefahr und dann unglaubliche Katastrophen. Und dann kommen Leute wie ich und sagen: Da ist ein riesiges Problem. Die Leute, die mich kritisieren, verschwenden ihre Zeit. Ich bin viel zu sehr mit Musik beschäftigt, um über Politik nachzudenken. Aber ich denke über die Menschen nach. Die Ukraine ist eine menschliche Katastrophe, entstanden aus politischen Fehlern. Nicht umgekehrt. Also reden wir da gerade über Politik? Ich frage Sie?

BR-KLASSIK: Auf jeden Fall. Ich würde diese Unterscheidung nicht machen. Für mich sind das alles politische Fragen. Offenbar haben wir da eine andere Auffassung – und ich kann mir gut vorstellen, dass solche Missverständnisse mit dem deutschen Publikum immer wieder auftreten werden.

Valery Gergiev: Sehen Sie, wenn Sie um ein Interview bitten und ich sage nein, dann wäre das nicht sehr freundlich. Und wenn ich ja sage, dann heißt es, ich liebe politische Diskussionen. Wir sind nicht Politiker, nur weil wir über Politiker reden. Wir fürchten uns vor deren Fehlern. Wir machen nicht selbst Politik. Und ich sage Ihnen und Ihren Hörern: Wenn wir unseren Politikern immer mehr Fehler erlauben, dann kommt der dritte Weltkrieg. Und das müssen wir verhindern.

BR-KLASSIK: Zumindest darin sind wir uns einig. Herr Gergiev, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview für BR-KLASSIK führte Bernhard Neuhoff.

Weitere Links

Alle Konzerte der Münchner Philharmoniker
Den Beitrag zum Nachhören im Podcast-Center

    AV-Player