Schostakowitschs 13. Symphonie "Babi Yar" ist ein musikalisches Statement gegen den Antisemitismus in der Sowjetunion. Der kurzfristig für Yannick Nézet-Séguin beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks eingesprungene John Axelrod hat einen professionellen und persönlichen Bezug zu diesem Werk, wie er im BR-KLASSIK-Interview erzählt.
BR-KLASSIK: John Axelrod, die Absage von Yannick Nézet-Séguin kam sehr kurzfristig, ebenso Ihr Engagement, zumal bei diesem Programm. Man sagt da nicht zu, wenn man nichts zur 13. Sinfonie von Schostakowitsch zu sagen hat. Was ist Ihr Bezug?
John Axelrod: Als ich am Sankt Petersburger Konservatorium studiert habe, bei Ilja Muzin – einem der großen russischen Pädagogen, was Dirigieren angeht – , da wurde ich quasi Hals über Kopf in Schostakowitschs Musik hineingeworfen. Ich habe sehr intensiv mit dieser Musik gelebt. Ich habe selbst einen russischen Familienhintergrund: Meine Frau ist Russin. Ich habe also einen sehr persönlichen, nicht nur einen professionellen Zugang und Bezug zur russischen Kultur und Musik. Ich habe mich dem verschrieben, als Dirigent: nicht nur Schostakowitsch, auch Prokofjew, Rachmaninow und anderen russischen Komponisten.
Die Babi Yar-Symphonie kenne ich sehr gut. Ich glaube, jeder jüdische Dirigent hat einen besonderen Bezug zu diesem Stück. Aufgrund des historischen Hintergrunds, aufgrund des Gedichts von Jewtuschenko, überhaupt der historischen Bedeutung des Stücks. Ich habe es bereits mehrmals dirigiert. Aber die Gelegenheit hier mit dem Chor und dem SO des BR und mit Mikhail Petrenko als Solist – das ist natürlich außergewöhnlich. Da wird ein Traum wahr.
BR-KLASSIK: Sie sind selbst Jude. Schostakowitsch hat immer wieder Stücke mit dezidiert jüdischem Bezug, Kontext, Stil geschrieben. Ist diese 13. Sinfonie ein "jüdisches Stück"?
Ich bin einer, der liebt, keiner, der kämpft.
In der Musik stecken Referenzen an jüdische Komponisten und jüdische Musik, aber man kann auch Wagner heraushören. Und wenn der Chor diesen Marsch singt (ein ganz unglaublicher Moment), erinnert mich das an das "Berliner Requiem" von Kurt Weill. Man findet all diese Verweise, aber es war Schostakowitsch, der hier sein eigenes persönliches Statement abgegeben hat: Über die Tragödie des Faschismus, des Stalinismus, die Tragödie vom Verlust des Lebens und dem Willen zu überleben. Das Licht, das die Dunkelheit überwindet.
BR-KLASSIK: Können Sie, können wir heute ermessen, wie mutig es war, dieses Gedicht zu schreiben und zu vertonen?
John Axelrod: Natürlich hat es außergewöhnlichen Mut erfordert, diese Sinfonie zu schreiben. Es gibt da eine Textstelle im 4. Satz über die Angst, die geheime Angst, dass die Polizei an der Tür klopft und dich holen kommt. Das erinnert mich an die Zeit in den 30ern vor seiner 5. Sinfonie, als Schostakowitsch nicht wusste, ob er nicht jeden Moment abgeholt und bestraft würde. Was das bedeutet, in dieser Angst zu leben, das wissen vielleicht noch Hörer aus der DDR-Zeit, wo man auch ängstlich und unsicher war, in welcher Art Sicherheit man denn lebte.
Die Wahrheit ist eine große Währung.
Entscheidend ist für mich, den Mut zu haben, die Wahrheit auszusprechen. Gerade auch jetzt im Moment, wo die Wahrheit attackiert wird, das Wort "postfaktisch" groß in Mode gekommen ist und überstrapaziert wird. Die Wahrheit ist eine große Währung. Und Kunst hat die Fähigkeit, die Wahrheit auszusprechen – durch Ironie, durch Sarkasmus, durch Witz – auch durch Melodie, Rhythmus und Klang.
Das Leiden ist ja untrennbarer Bestandteil der russischen Kultur: lesen Sie Puschkin oder Dostojewskij, da bekommen Sie schnell eine Idee davon, wie groß die Leidensfähigkeit der Russen ist. Und lesen Sie dann Bulgakow und hören Sie Schostakowitsch, dann verstehen Sie den Humor im Angesicht der Tragödie. Da kommt, glaube ich, der Mut her – die Wahrheit zu sagen, zu lachen über das Leiden, und zu erkennen, dass die Wahrheit am Ende siegen wird.
BR-KLASSIK: Schostakowitsch hat immer betont, dass das Werk eine geschlossene Symphonie sei und nicht fünf Sätze einer losen Suite. Wo besteht für Sie der musikalische und atmosphärische Zusammenhang?
John Axelrod: Es ist wie ein Porträt, denken Sie an Mussorgskijs "Bilder einer Ausstellung". Wir haben hier quasi fünf Bilder in Worten, geschrieben von einem russischen Expressionisten, Jewgenij Jewtuschenko. Oder sagen wir besser, er ist ein sowjetischer Futurist. Nehmen Sie den 3. Satz ("Im Geschäft"), wo man die Frauen förmlich Schlange stehen sieht: Babuschkas in der Kälte, mit Schal und Mütze, die Hände nach Brot ausgestreckt. Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit, das drückt Schostakowitsch mit seinen Klängen sehr genau aus. Und dazu im Kontrast dieses ironische Scherzando, fast diabolisch, im 2. Satz ("Humor"). Da ist Mahlers Vierte Sinfonie gar nicht weit weg, mit der Skordatur, den extra falsch gestimmten Geigen, wie ein Teufelstanz. Allein dieser Kontrast vom Humor zum unendlichen, tiefen Leiden, auch im 4. Satz ("Ängste"). Da muss ich immer an das deutsche Sprichwort denken: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.
Und dann kommt das Finale, wie ein Licht aus der Dunkelheit. Wenn die Flöten kommen, und Solo-Violine und Solo-Bratsche allein sind, das ist wie wenn Sie mit einer Kerze in der Dunkelheit laufen: Wenn Sie zu schnell laufen, geht sie aus. Wenn Sie reden, geht sie aus. Wenn ein Luftzug kommt, geht sie aus. Aber sie muss brennen. Also gehen sie auf Zehenspitzen und ganz langsam. Das ist die Atmosphäre, das ist das Gefühl, das wir erzeugen wollen.
Nach den fünf Sätzen der Sinfonie hat man dasselbe Gefühl, wie wenn man einen 1000-Seiten-Roman gelesen hat.
Also man kommt in dieser Symphonie von dieser großen Eröffnung, fast eine Art Explosion, dem 1. Satz ("Babi Yar"), der uns von dieser unglaublichen Tragödie berichtet, zu einer einzigen Kerze. Das war’s. Und diese gesamte Reise dahin ist einfach außerordentlich. Nach den fünf Sätzen der Sinfonie hat man dasselbe Gefühl, wie wenn man einen 1000-Seiten-Roman gelesen hat. Man liest die letzte Seite, schließt das Buch und sagt nur: Wow!
Freitag, 29. Juni 2018 ab 20:05 Uhr
Programm:
Samuel Barber: Adagio for Strings
Igor Strawinsky: "Chant funèbre", op. 5
Dmitrij Schostakowitsch: Symphonie Nr. 13 b-Moll - "Babi Yar"
Sendung: "Leporello" am 27. Juni 2018, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK