Es war eine Überraschung: Unter den vier Final-Teilnehmern gab es heuer beim ARD-Wettbewerb im Fach Gesang keinen Verlierer. Denn die Jury entschied sich für zwei dritte Plätze. Der Schlusspunkt einer höchst emotionalen musikalischen Rallye, bei der auch das Publikum sehr mitleidet.
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Finale Gesang - 1. Preis
Video: Der Final-Auftritt von Natalya Boeva, Russland
"Es ist immer so ungerecht", ist das emotional geladene Fazit einer Zuschauerin nach dem Finale im Münchner Herkulessaal am Abend des 12. Septembers. Für sie seien die Preise nicht richtig verteilt. Doch sofort regt sich Widerspruch mehrerer regelrecht euphorischer Besucher hinter ihr: "Diese Preisvergabe ist eine perfekte Lösung, endlich hat die Jury mal genau richtig entschieden!"
Niemand ging leer aus: Alle vier Finalisten wurden ausgezeichnet. Zweimal gab es einen dritten Preis - an die schwedische Sopranistin Ylva Sofia Stenberg und den chinesischen Tenor Mingjie Lei. Und in der Tat konnten diese beiden trotz völlig unterschiedlicher Stimmfarben mit Mut zur Zartheit und feinen Tönen punkten. Auf dem Siegertreppchen mussten sie aber doch den dunkleren Stimmen den Vortritt lassen.
Natalya Boeva wirkte über den gesamten Wettbewerb hochkonzentriert, technisch souverän und in allen Stilen enorm ausdrucksvoll. Die Petersburgerin steigerte sich im Verlauf des Wettbewerbes zu persönlichen Höchstleistungen und ersang sich neben dem ersten Preis auch den Sonderpreis für die beste Interpretation der Auftragskomposition mit innig gehauchter Poesie.
Bildquelle: © Daniel Delang Beim Vortrag mit Orchester kommt es dann wieder auf die Durchschlagskraft in der Stimme an. Was schöner, oder gar besser ist, lässt sich in den meisten Fällen nur über den persönlichen Geschmack bewerten. Hauptsache, der Gesang berührt und bewegt etwas im Zuhörer. Das gelang dem Schweizer Bassbariton Milan Siljanov über den gesamten Verlauf des Wettbewerbes besonders gut, und er wurde dafür mit dem Publikumspreis belohnt: "Der Publikumspreis! Ich bin ja eigentlich Züricher und fühle mich jetzt schon fast wie ein richtiger Münchner."
Wie wichtig die Kommunikation mit dem Publikum über persönliche Interpretation und facettenreiche Gestaltung ist, hatte Jurorin Gerhild Romberger bereits nach dem zweiten Durchgang im Rahmen der öffentlichen Masterclass in der Münchner Musikhochschule erklärt: "Für mich ist wichtig, wenn jemand von der Natur damit gesegnet ist, diese Begabung geschenkt bekommen zu haben: was macht jemand damit? Nutzt er das wirklich, um dann musikalische Inhalte zu transportieren?"
Bildquelle: © Daniel Delang Die Möglichkeit, sich von den Juroren nach dem Ausscheiden beraten und auch unterrichten zu lassen, gab es in diesem Jahr beim ARD-Gesangswettbewerb zum ersten Mal. Eine großartige und sehr sinnvolle Erweiterung des Fördergedankens, den dieser Wettbewerb neben der Prämierung ausgezeichneter Leistungen auch hat. Sowohl die Juroren, Sängerinnen und Sänger und das überaus interessierte Publikum wirkten nach dem arbeitsreichen wettbewerbsfreien Samstag nach der zweiten Runde wesentlich erfüllter und bereicherter, als nach den Ausscheidungsrunden.
"Nach dem Druck, den man hier sich innerlich aufgebaut hat für den ARD Wettbewerb, gehe ich jetzt mit einer ganz guten Energie in die ganzen Projekte, die jetzt kommen und freue mich wahnsinnig darauf, einfach weiter zu singen", erzählt Mezzosopranistin Anna Bineta Diouf nach ihrer privaten Meisterklasse mit Ann Murray.
Wie die Bewertung zustande kommen, ist ein gut gehütetes Geheimnis und Anlass für viel Spekulation beim Publikum, das nicht jede Juryentscheidung nachvollziehen kann. Im ersten Durchgang wurde rund die Hälfte der 60 angetreten Teilnehmer über eine Ja- oder Nein-Entscheidung beurteilt. Ab dem zweiten Durchgang hatten die Juroren mit einem 9-Punktesystem übers Weiterkommen zu entscheiden. Bei wackeligen Ergebnissen gab es dann eine Beratung unter den Juroren.
Mein Appell an die jungen Kollegen ist, nicht aufzuhören, inhaltlich zu arbeiten.
Man verstand sich gut innerhalb der Jury, auch wenn Meinungsverschiedenheiten nie ausbleiben können. Denn gerade beim eigenen Stimmfach fühlt jede und jeder besonders stark mit. Juror Michael Nagy bedauert beispielsweise, dass es kein lyrischer Bariton bis ins Halbfinale schaffte, obwohl er sehr gute Stimmen gehört hatte: "Persönlich liegt mir das natürlich am Herzen, und ich fand alle Kandidaten interessant genug, dass man ihnen noch eine zweite Chance hätte geben können. Das ist nicht passiert, und damit muss man leben. Mein Appell an die jungen Kollegen ist, nicht aufzuhören, inhaltlich zu arbeiten, denn der häufigste Grund für das Ausscheiden war, dass zwar charmant dargeboten wurde, aber der Kern der Musik nicht authentisch und persönlich genug rübergebracht wurde."
Bildquelle: © Daniel Delang Bei den Semifinalisten waren es aber auch physische Gründe, die für einige den Wettbewerb beendeten: Der in Stuttgart engagierte deutsche Tenor Kai Kluge musste krankheitsbedingt absagen; bei Countertenor Rodrigo Sosa Dal Pozzo spielten die Nerven nicht mehr mit: Er musste wegen eines Texthängers sein Orlofsky-Couplet abbrechen und neu beginnen. Jammerschade auch, dass sich bei der Sopranistin Pureum Jo der Druck mit dem Weiterkommen nicht ab- sondern derart aufbaute, dass sie beim Semifinale im Prinzregententheater weit unter ihren Möglichkeiten blieb. Für den Bassisten Alexander Roslavets gab es logistische Probleme, denn er hatte am Probentag auch eine Verpflichtung an der Hamburgischen Staatsoper. Vielleicht geriet sein Vortrag der Jury auch deswegen ein bisschen zu eindimensional.
Auffällig bei den Preisträgern im Fach Gesang ist, dass sie alle bereits einen sehr guten Einstieg in das Klassik-Business gefunden haben und in festen Verträgen an deutschen Staatstheatern gebunden sind. Trotzdem bringt der ARD-Wettbewerb eine besonders große mediale Aufmerksamkeit mit sich, die weit über das Alltägliche hinausgeht. Von Kamerateams vor und nach dem Auftritt in die Garderobe verfolgt zu werden, in jeder Situation Interviews geben zu müssen und seine Auftritte in den sozialen Medien unwiderruflich veröffentlicht zu sehen, ist ein neuer Aspekt im Musikerberuf. Mit dem man ebenfalls umgehen können muss. Der mentale Stress wird durch die große Öffentlichkeit nicht weniger, aber Milan Siljanov weiß, warum er ihn auf sich nimmt: "Wenn man den Fuß auf die Bühne setzt und die Wärme des Publikums spürt und man weiß, man macht jetzt Musik, dann vergisst man alles andere."
Die Preisträger des ARD-Musikwettbewerb hören Sie in Konzerten am 19., 20. und 21. September. BR-KLASSIK überträgt live im Radio und als Videostream unter brklassik.de.