Mit seinem ansteckenden Enthusiasmus, seiner atemberaubenden Vielseitigkeit und seiner fesselnden Beredsamkeit gehört Leonard Bernstein zu den faszinierendsten Musikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Zumindest auf dem Gebiet der Musik war er eines der letzten Universalgenies.
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Ich lerne gern, ich bin ein ewiger Schüler und bin vielleicht deshalb ein ziemlich guter Lehrer.
Eines der vielen Erkenntnisse, die man in Leonard Bernsteins letztem Interview nachlesen kann. Er gab es im November 1989, elf Monate später starb er. Der vielseitige Künstler war als Dirigent ebenso erfolgreich wie als Pianist, Pädagoge, Autor - und natürlich als Komponist: Mit seinem Musical "West Side Story" schrieb er einen echten Welt-Hit.
Leonard Bernstein dirigiert ein Friedenskonzert im Januar 1973 in der National Cathedral in Washington D.C. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Nach seiner Ausbildung an der Harvard-University, dem Curtis-Institute of Music und in der Tanglewood Summer School wurde er bereits mit 25 Jahren Assistent von Arthur Rodzinski beim New York Philharmonic Orchestra. Und mit einem Paukenschlag begann auch seine Dirigentenkarriere: denn bereits im ersten Jahr als „assistant conductor“ bekam er quasi über Nacht die Gelegenheit seines Lebens. Der feierlaunige Bernstein kam nach einer feuchtfröhlichen Nacht in den Morgenstunden nach Hause, aber bereits um 9 Uhr weckte ihn sein Telefon: Der stellvertretende Leiter der New Yorker Philharmoniker teilte dem verkaterten Künstler mit, er müsse am Nachmittag um 15 Uhr für den erkrankten Bruno Walter einspringen und ein Konzert dirigieren. Für eine Probe sei keine Zeit. Der Rest ist Geschichte, denn bereits in den folgenden Jahren war er als Gastdirigent mit allen großen Orchestern Amerikas aufgetreten. Als erster Amerikaner und jüngster Dirigent in der Geschichte bekam er schließlich den Chefposten bei den New Yorker Philharmonikern. Er wurde von allen Opernhäusern und Orchestern der Welt eingeladen, machte legendäre Aufnahmen mit Beethoven- oder Mahler-Zyklen, dirigierte beim Amtsantritt Kennedys und beim Mauerfall in Berlin. Am 19. August 1990 stand er zum letzten Mal am Dirigentenpult - in einem Konzert mit dem Boston Symphony Orchestra in Tanglewood, das er nur mit größter Kraftanstrengung beenden konnte. Zwei Monate später starb Bernstein im Alter von 72 Jahren.
"Es ist mir unmöglich, eine endgültige Wahl unter meinen verschiedenen musikalischen Tätigkeiten zu treffen - ob Dirigieren, Komponieren, fürs Theater schreiben oder Klavierspielen. Was immer mir im gegebenen Moment als richtig erscheint, muss ich tun." Das schreibt Leonard Bernstein in seinem Buch "Erkenntnisse". Das Klavierspielen stand sicherlich nicht im Zentrum seiner künstlerischen Arbeit, aber bei vielen Gelegenheiten war Bernstein auch als Solist zu erleben, der vom Flügel aus das Orchester dirigierte. Seine Aufnahmen und Konzerte mit Gershwins "Rhapsody in Blue" belegen das ebenso wie Bernsteins Auftritte mit Klavierkonzerten von Mozart, Beethoven, Ravel oder Schostakowitsch. Er begleitete von ihm geschätzte Sänger wie Christa Ludwig oder Dietrich Fischer-Dieskau bei Liederabenden und war natürlich auch als Interpret seiner eigenen Klavierwerke und Lieder zu hören.
Bildquelle: picture-alliance/dpa Schon früh begann Leonard Bernstein seine Gedanken zur Musik aufzuschreiben. In vielen Zitaten- oder Aphorismensammlungen findet man "Bernstein-Bonmonts". Im Jahr 1959 veröffentlichte er sein erstes Buch mit dem Titel "Freude an der Musik". Wenngleich ihm - wie er im Vorwort schreibt - bewusst war, wie problematisch es sei "das einzigartige Phänomen der menschlichen Reaktion auf geordnete Töne zu erklären". Dennoch fand er in seinen fiktiven Dialogen und verschriftlichten Vorträgen einen wunderbaren Stil, der es dem Leser leicht macht, musikalische Zusammenhänge und das Mysterium der Musik zu verstehen. Wenn Bernstein über die "unendliche Vielfalt der Musik" fabuliert (so der Titel einer weiteren Veröffentlichung), wenn er Symphonien analysiert oder dem geneigten Leser erklärt, warum "Gustav Mahlers Zeit gekommen" sei, dann tut er das nicht mit dem erhobenen Zeigefingers des altklugen Dozenten, sondern mit dem Enthusiasmus eines Musikfanatikers, der die Musik und die Menschen liebt. Eine besonders interessante Quelle, die uns den Musiker und Menschen Bernstein nahbringt, ist sein letztes Interview, das er im Jahr 1989 dem Musikjournalisten Jonathan Cott gab. Aus dem vielstündigen Abendessen der beiden machte Cott ein Buch mit dem Titel "Leonard Bernstein. Kein Tag ohne Musik".
Ein großer Lehrer ist einer, der aus seinen Schülern Funken herausschlagen kann, Funken, an denen ihr Enthusiasmus für Musik schließlich Feuer fängt.
Begeisterung und Neugierde zu wecken gelang Bernstein nicht nur durch seine Fernsehvorträge, seine Lehrtätigkeit in Tanglewood, seine Havard-Vorlesungen (die in dem Buch "Musik, die offene Frage" gebündelt sind), sondern vor allem auch durch eine legendäre Konzertreihe "Young people’s concerts". Insgesamt 53 solcher Kinderkonzerte veranstaltete er über 14 Jahre hinweg zusammen mit den New Yorker Philharmonikern und erklärte darin die Welt der Musik. Und davon waren nicht nur die Kinder begeistert! Bernsteins "Young people’s concerts" wurden live im Fernsehen übertragen, von CBS zur besten Sendezeit wiederholt, in mehrere Sprachen übersetzt und in viele Länder verkauft. Rückblickend bewertete Bernstein diese Reihe als eine seiner "wichtigsten, am höchsten geschätzte Tätigkeiten" seiner Karriere. Eine gebündelte Zusammenfassung findet man in seinem Buch "Konzert für junge Leute. Die Welt der Musik in 15 Kapiteln."
Rita Moreno in einer Szene aus dem Film "West Side Story". | Bildquelle: picture-alliance/dpa "Manchmal komponiere ich am Klavier, manchmal am Schreibtisch, manchmal auf einem Flughafen und manchmal, wenn ich durch die Straßen gehe; meistens aber komponiere ich, wenn ich im Bett oder auf dem Sofa liege. Meiner Meinung nach komponieren fast alle Komponisten im Liegen." Und was Leonard Bernstein alles auf dem Sofa liegend im Geiste ersonnen und zu Papier gebracht hat, ist immens. Angefangen von seinen drei Symphonien, Chorwerken, Klavier- und Kammermusikstücken, bis hin zu seinen Balletten "Fancy Free" oder "Dybbbuk". Die größte Affinität verspürte Bernstein zum Musiktheater; dabei wurden seine Bühnenwerke "Trouble in Tahiti", "Candide" oder "On the town" vom gewaltigen Erfolg der "West Side Story" überflügelt. Mit dieser modernen Version des "Romeo und Julia"-Stoffs schuf Bernstein eines der größten Werke des amerikanischen Musiktheaters, das seit einem halben Jahrhundert auf den Bühnen der Welt Erfolge feiert.
Das Lebenswerk dieses Künstlers und Philantrophen ist fast unüberschaubar groß. Er arbeitete rastlos, tagein tagaus. Was ihn dabei antrieb, fasst Leonard Bernstein so zusammen:
Ich kann keinen Tag leben, ohne Musik zu hören, ohne zu spielen, mit Musik zu arbeiten, über diese nachzudenken. Und all dies ganz unabhängig von meinem Beruf als Musiker.