Eine aktive Karriere von rund sechs Jahrzehnten: Schon das ist ein Wunder. Aber dann auch noch eine Karriere wie diese! Der Pianist, Arrangeur und Komponist Dick Hyman ist der Mann mit dem Fingerspitzengefühl für ganz viele Tonlagen - ob einst als Pianist bei Benny Goodman oder im Soundtrack vieler Filme von Woody Allen. Am 8. März wird Richard Roven Hyman, genannt "Dick", 90 Jahre alt.
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Einen wie ihn findet man selten. Er spielte mit Benny Goodman, arrangierte für Count Basie, ließ die Orgel wummern für Toots Thielemans, kleidete die Stimme Art Garfunkels in ein jazziges Gewand, ließ den Sänger Tony Bennett noch fetziger swingen; er arrangierte, schrieb und spielte Filmmusiken für einige ganz große Woody-Allen-Streifen wie "Zelig", "The Purple Rose of Cairo", "Broadway Danny Rose" und "Sweet and Lowdown". Er komponierte Ballettmusik, eine "Ragtime Fantasy" und ein Klavierkonzert. Er machte sogar Elektronikpop. Und er spielte solo am Klavier wundervolle Interpretationen von Stücken der großen - nicht nur amerikanischen - Songschreiber ein: Cole Porter, Harold Arlen, George Gershwin. Aber auch Noel Coward, Vernon Duke, Kurt Weill.
Richard Roven Hyman wurde am 8. März 1927 in New York City geboren. Sein Onkel war der Konzertpianist Anton Rovinsky. Der brachte ihm Stücke von Beethoven und Chopin bei. Durch seinen älteren Bruder lernte Hyman Jazz von Louis Armstrong und anderen kennen - und nahm später Unterricht bei dem Swing-Virtuosen Teddy Wilson. Eine gute Schule. Da führte die Treppe schnell in musikalische Höhen. Und da ist Hyman, ein emsiger, neugieriger und, wie es scheint, oft auffällig gut gelaunter Vielarbeiter, Jahrzehnte lang geblieben. Dick Hyman, ein Alleskönner. Ein brillanter musikalischer Kopf mit ebenso brillanten Fingern. Musik von oder auch mit ihm ist immer ein Vergnügen. Töne mit viel Augenzwinkern und sehr viel Substanz. Besonders glänzend sind Hymans Klavier-Duos mit dem in Tegernsee geborenen Pianisten Bernd Lhotzky. Lhotzky, der Hyman aus der gemeinsamen Arbeit und der geteilten Liebe zu besonders geistblitzenden Arrangements berühmter Stücke für zwei Klaviere sehr gut kennt, kann darüber berichten, wie dieser ungewöhnlich produktive Musiker eigentlich als Person ist.
BR-KLASSIK: Herr Lhotzky, was finden Sie das Bemerkenswerteste an Dick Hyman?
Bernd Lhotzky: Man muss sich immer vor Augen führen, was Hyman alles geleistet hat. Wir kennen ihn hier als Spezialisten für klassischen Jazz und vielleicht als Verantwortlichen für die meisten Soundtracks der Woody-Allen-Filme, aber das ist ja nur ein winziger Ausschnitt seines Schaffens. In seinem großen hellen Arbeitszimmer steht ein etwa vier Meter breites LP-Regal. In einer Reihe stehen die Produktionen, an denen Dick selbst beteiligt war. Vier (!) Meter LPs - nicht zu reden von den unzähligen CDs. Viel Jazz, Swing, Bebop, Rock 'n' Roll, Pop-Produktionen, Moog-Synthesizer-Projekte, Strauß-Walzer und andere, manchmal ganz und gar obskure Geschichten.
BR-KLASSIK: Ein riesiges Pensum. Wie kriegt er das auf die Reihe?
Bernd Lhotzky: Dick ist stets freundlich, gelassen, in höchstem Maße organisiert und sehr pragmatisch. Er teilt sich seine Zeit minuziös ein. Auf seinem Flügel steht eine riesige Sanduhr. Der Sand benötigt genau eine Stunde, um durchzulaufen. Eine Stunde Etüden, dann die wichtigsten Telefonate, Zeitung lesen, ein 20-minütiger Spaziergang, Arrangieren oder Komponieren, Mittagessen mit seiner Frau, das Kreuzworträtsel der New York Times, Post, Klavierüben und so weiter. Eine Assistentin geht ihm im Büro zur Hand, draußen werkeln Gärtner und halten das schöne Anwesen in Ordnung. Vier stattliche Häuser auf vier benachbarten Grundstücken in einer Straße in Venice, Florida. Ein Wohnhaus, ein Haus für die Musik, ein Haus für das Büro von Ehefrau Julia, ein Haus mit Julias Atelier, wo sie sehr große Marmorskulpturen herstellt.
BR-KLASSIK: Sie haben mit ihm gearbeitet und waren auch mit ihm unterwegs: An welche Eigenheiten oder auch Begebenheiten erinnern Sie sich am stärksten?
Bildquelle: Jazz Connaisseur Records Bernd Lhotzky: Selbst die komplexesten Arrangements schreibt der Meister direkt mit Tintenroller auf großformatiges Papier. Auf die Frage, warum er nicht einen Bleistift benutze, um Fehler leichter korrigieren zu können, hat er mir einmal geantwortet: "Ich hasse die Fussel, die der Radiergummi hinterlässt, und vermeide es deshalb, Fehler zu machen." Auf einem Flug mit Dick hatte ich einmal das folgende Erlebnis: Kaum war die Maschine am Rollen, lag schon wieder eine angefangene Partitur auf seinem Schoß. Der rechte Sitznachbar, der den Fensterplatz innehatte, versuchte ein Gespräch anzufangen und sagte zu Dick, er würde nicht oft fliegen und es mache ihm Angst, aus dem Fenster zu sehen. Hyman beugte sich wortlos über den Mitreisenden und zog kurzerhand die Sonnenblende herunter, fragte freundlich: "Ist es jetzt besser?" und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Bei einer Probe zu unserer CD "Stridin’ The Classics", improvisierte Hyman wie der Teufel über die ohnehin komplexe Rachmaninow-Transkription von Fritz Kreislers "Liebesleid". Das Wunder wurde jäh unterbrochen. Mittendrin klappte er den Klavierdeckel zu und stand mit einem Ruck von seinem Klavierhocker auf. Das war, glaube ich, das einzige Mal, dass ich ihn verärgert gesehen habe. Auf meine Frage, ob alles in Ordnung sei, erwiderte er: "Nein, ganz und gar nicht. Ich kann mich gerade nicht entscheiden, ob ich Rachmaninow oder Art Tatum sein möchte."
BR-KLASSIK: Hyman ist ein Musiker, der erstaunlich Vieles kann: in unterschiedlichsten Stilen Klavier spielen, brillant arrangieren, komponieren. Ein Musiker mit vielen Facetten. Wie würden Sie seinen Beitrag zur Musikgeschichte einordnen?
Bernd Lhotzky: Dick Hyman wird oft nicht wirklich verstanden. Zwar genießt er unter Kollegen das allerhöchste Ansehen, in der breiten Öffentlichkeit hat er aber längst nicht den Bekanntheitsgrad, den er verdient hätte. Zum einen liegt das daran, dass er einen Großteil seiner Karriere in den bedeutenden Aufnahmestudios verbracht hat und nicht konstant auf Tournee war, zum anderen liegt es daran, dass sein musikalischer Kosmos so unvergleichlich groß ist und seine Ausdrucksmöglichkeiten schier grenzenlos. Das ist verständlicherweise schwer zu begreifen und nicht so leicht einzuordnen. Solch überlegene Intelligenz macht fassungslos. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Dick Hyman als einer der größten Improvisatoren des 20. Jahrhundert in die Musikgeschichte eingehen wird. Sein stilübergreifendes Interesse an der gesamten Jazzgeschichte könnte allen Hochschulen als leuchtendes Vorbild dienen. In dem fünf CDs und eine DVD umfassenden "Century Of Jazz Piano" ist Dick Hymans Lebenswerk zusammengefasst. Ein unvergleichlicher Wissensschatz, der jedem angehenden und jedem professionellen Pianisten bereichernde und tiefe Einblicke in die Geschichte des Jazz Pianos bietet.
BR-KLASSIK: Haben Sie immer noch Kontakt?
Bernd Lhotzky: Ja, wir schreiben uns alle paar Monate, freilich nicht mehr so häufig, wie in den Jahren, als wir noch regelmäßig zusammen konzertiert haben. In seinen Briefen ist Dick oft sehr witzig, dabei immer besonders fein und präzise. Er findet immer die richtige Vokabel, ganz wie in der Musik.