Bunter und lebendiger hätte das Finale nicht sein können. Die französische Komponistin und Bandleaderin Eve Risser führte mit ihrem White Desert Orchestra in den Grand Canyon - und das Publikum landete in den Sternen. Eine zehnköpfige Jazzband, in der es unter anderem ein Fagott, ein Bass-Saxophon, ein präpariertes Klavier (diverse Gegenstände im Innern des Flügels) und ein Schlagzeug mit schrägstehender Großer Trommel wie im Symphonieorchester gibt. Und die in lauter Eigenkompositionen der 1982 in Colmar geborenen Bandleaderin Klangbilder von enormer Suggestivkraft schafft.
Bildquelle: © Sylvain Gripoix
Da klingen die Blasinstrumente schon mal, als würde ein Tonband rückwärts laufen, eine Gitarre gewittert, die Percussion schabt und dröhnt und powert - und mit mal ganz elegischen Melodien und Klängen, die sich fast in die Stille hineinschrauben, entstehen poetische Hörfilme, überraschende musikalische Szenen im Großformat, punktgenau abgestimmt und hochvirtuos gespielt. Musik, die zum Beispiel von auseinanderklaffenden Canyon-Wänden inspiriert ist - und die ganz eigene Vorstellungen wachruft, weil man genau so etwas vermutlich vorher nie gehört hat - außer bei anderen Auftritten dieser Band.
Ein Schlusspunkt, der viel Nachklang in den Ohren hinterließ: Das Jazzfest Berlin 2016 endete Sonntagnacht im Haus der Berliner Festspiele mit einem Avantgarde-Statement, das wie eine Quintessenz des ganzen Programms wirkte. "Dialoge" und ganz generell "Konversation" hatte der künstlerische Leiter Richard Williams diesem traditionsreichen Festival, das jetzt zum 53. Mal stattfand, auf die Fahnen geschrieben. Und er hatte - ohne es in irgendeiner Überschrift zu betonen - genauso viele Bands aufgeboten, die von Frauen geleitet werden, wie Bands unter der Führung von Männern. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber bei Jazzfestivals bisher nicht. Zudem wollte Williams neben bekannten Größen möglichst viele bemerkenswerte junge Musikerinnen und Musiker aufbieten. Bei der Band von Eve Risser hatte er alles das in einem: höchst kommunikative Musik von einer Bandleaderin, die auch noch äußerst charmante Bühnenansagen machte. und vom Flügel aus dirigierte.
Matana Roberts & Band | Bildquelle: Camille Blake Damit schloss sich ein Kreis an den insgesamt sechs Tagen des Festivals, das diesmal als "extended version" bereits am Dienstag letzter Woche begonnen hatte. Und zwar ebenfalls mit einem Projekt einer hervorragenden Musikerin: Der Amerikanerin Matana Roberts, die im Martin-Gropius-Bau ein einstündiges Stück aufführte, das der Choreographin Pina Bausch gewidmet war. Über Pina Bausch wird im Gropius-Bau im Moment die Ausstellung "PINA BAUSCH und das Tanztheater" gezeigt, in der auch der Probenraum der Choreographin nachgestellt ist, der ehemalige Kino-Raum der sogenannten "Lichtburg". Und genau in diesem Raum ließ die Saxophonistin Matana Roberts ihr "For Pina" ertönen: ein frei mäanderndes Stück für eine fünfköpfige Band, das vom Schaffen Pina Bauschs inspiriert war. Neben souligen Saxophonklängen von packender Kraft enthielt das Stück auch einen wie ein Mantra wiederholten, ins Englische übersetzten Satz von Pina Bausch: "I am not interested in how people move, I am interested in what moves them".
Mette Henriette | Bildquelle: © Camille Blake Matana Roberts und Eve Risser sind Künstlerinnen, die das Profil dieser Ausgabe des Festivals besonders prägten. Und sie sind Entdeckungen für das Berliner Publikum. Solch eine Entdeckung konnte man auch bei der norwegischen Saxophonsitin und Komponistin Mette Henriette Martedatter Rolvag machen. Die führte ihre elegische Musik, mit der sie vor knapp einem Jahr mit der CD "Mette Henriette" für Aufhorchen sorgte, wie eine lang angelegte, leise Suite mit theatralischen Beigaben auf. Eine kleine Frau mit braunen Haaren, in sanftes Licht getaucht, bläst ungemein kontrolliert in leisen und ganz sparsamen, fein abschattierten Tönen ihr Tenorsaxophon. Und eine Band mit Streichern, Bandoneon, Blas-Instrumenten und Schlagzeug setzt ganz zarte Klang-Tupfer, die von Minute zu Minute immer noch leiser und noch sparsamer zu werden scheinen. Musik für einen imaginären Film, der in sehr weiter, stiller Landschaft spielt. Und eine Musikerin, der hinterher die deutsche Kulturstaatsministerin Monika Grütters innig zu dieser Premiere gratulierte.
Wenige Stunden zuvor hatte Monika Grütters zur Eröffnung des Festivals eine Rede gehalten, in der sie den Jazz als "unverzichtbaren Bestandteil unseres Geisteslebens" bezeichnete. Und am Ende wünschte sie dieser Musik "die uneingeschränkte Aufmerksamkeit", die sie "braucht und, verdammt nochmal, verdient hat." Viel Beifall für eine Rede, die nicht nach Papier, sondern nach persönlicher Überzeugung klang - und die auch dadurch gestützt wurde, dass die Ministerin bis nach Ende des auf der Hauptbühne des Festivals stattfindenden Programms an diesem Abend blieb. Jazz: Ganz offenbar eine Musik mit aktuellem Stellenwert für die deutsche Kulturpolitik.
Diese Resonanz tut dem Berliner Festival als deutschem Flaggschiff der Jazz-Veranstaltungen und dem Jazz, einer derzeit in einem Aufwind befindlichen Kunst, generell gut. Jazz, wie viele andere hohe Künste, muss den Anschluss an die Jugend finden - und darum bemüht man sich auch bei diesem Festival, nicht zuletzt durch viele sehr junge Musiker auf der Bühne. Aber Blicke ins Publikum zeigen, dass sich so etwas nur allmählich herumspricht. Immerhin war das Jazzfest, bis auf wenige Plätze am letzten Abend, komplett ausverkauft.
Julia Holter | Bildquelle: © Tonje Thilesen Die Jazzgemeinde und andere Neugierige in Berlin bekamen diesmal viel Stoff, um die Vielfalt des Jazz zu erfahren - und einige Nüsse, um das Schubladendenken infrage zu stellen. Jazz: eine Männerdomäne? Dieses Programm zeigte, dass das längst überholt ist. Jazz, vor allem eine Musik mit langen Soli und wilden Gruppenaktionen? Manchmal ja, ganz oft nein. Sondern: eine Musik, die viele Gestalten und Möglichkeiten bietet: Das ist der Jazz im 21. Jahrhundert, und das war er diesmal ganz dezidiert in Berlin. Einmal artikulierte das Publikum auch deutlich, dass dies ja wohl "kein Jazz" sei - wie beim ersten Konzert des Abschluss-Abends. Da trat die amerikanische Singer-Songwriterin Julia Holter auf. In ihrem Programm "Julia Holter & Strings" stand sie statisch an der Rampe hinter einem Keyboard, sang ihre etwas düsteren, aber kunstvoll gebauten Popsongs und sprach erst ganz am Ende zum Publikum, das dann freundlich applaudierte - nach deutlichen Buh-Rufen und Flucht-Anwandlungen zwischendurch. Das Hinaushorchen über den Tellerrand war aber vom Künstlerischen Leiter beabsichtigt. In seinem Programm wollte Richard Williams darauf hinweisen, dass der Jazz eine Musik ist, die sich über die eigenen Grenzen hinaus fortsetzt und manchmal als Spurenelement in Klängen vorhanden ist, in denen man sie nicht vermutet. Mit Saxophon und Kontrabass setzt Julia Holter Jazz-Farben in ihren Kompositionen ein. Das stützt Richard Williams' These, überzeugte aber an diesem Abend das Publikum eher nicht.
Die Glanzlichter des Festivals waren in anderen Auftritten zu finden: neben dem Auftritt von Eve Risser und dem Konzert der ganz feinnervigen Schweizer Sängerin Lucia Cadotsch etwa in demjenigen des Steve Lehman Octets. Steve Lehman ist ein New Yorker Altsaxophonist des Jahrgangs 1978. Mit seiner mit fünf Bläsern und Rhythmusgruppe besetzten Band spielt er eine Musik, die wie im Zeitraffer dahinrast und krumme Metren, vertrackte Einsätze und völlig überraschende Generalpausen so perfekt realisiert, dass man beim Hören manchmal fast das Atmen vergisst. Unfassbare Ensemble-Leistung.
Wadada Leo Smith | Bildquelle: © Scott Goller Ganz große Momente schuf der amerikanische Trompeter Wadada Leo Smith, geboren 1941, mit seinem Great Lakes Quartet, in dem Trompete, Saxophon, Schlagzeug und Bass eine bezwingende, raue Schönheit entfalten. Lange schwarze Dreadlocks und einen grauen Bart hat dieser enorm junge 75-Jährige, der häufig die Trompete zum Boden gerichtet spielt und seinen Mitmusikern ganz sparsame Zeichen während des Spielens mit dem Zeigefinger der rechten Hand gibt - während die anderen Finger die Ventile drücken. Und sein introvertierter und trotzdem ausdrucksstarker Ton erzählt Geschichten. Zusammen mit dem britischen Organisten Alexander Hawkins war Wadada Leo Smith auch im Duo im Anbau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu erleben: Vielfarbige Dialoge zwischen Orgel und Trompete.
Zu den Stars dieses Festivals gehörte das Duo von Pianist Brad Mehldau und Saxophonist Joshua Redman, das in Eigenkompositionen wie "Always August" und Klassikern wie "Ornithology" auf ganz feine Art die Kunst des Ineinander-Verschränkens von Themen und Motiven zeigte - und auch der Anspielung auf viele andere Stücke. Hohe Kontrolle über Musik - und dennoch auch Risiko: Joshua Redman schraubte sich schon mal so in Tonketten hinein, dass er japsend nach Luft schnappte. Ebenfalls Superstar-Status: das Trio aus Saxophonist Ravi Coltrane, E-Bassist Matt Garrison und Schlagzeuger Jack DeJohnette. In einem ganz langen Spannungsbogen spielten die Drei ein ununterbrochenes Stück von rund einer Stunde, das viele Ecken und Kanten hatte, viele Stimmungen suchte, aufbaute und manchmal nur streifte und ganz anders klang als auf der aktuellen CD "In Movement". Ihren Auftritt in Berlin könnte man "One Movement" nennen - und er verpasste dem lyrischen Kern dieses Trios eine sehr raue Schale, die man lieben oder hassen konnte.
Globe Unity Orchestra | Bildquelle: © Hans Harzheim Jazz-Geschichte gab es auch: das Konzert zum 50-jährigen Bestehen einer Jazz-Instanz. In Berlin, auf den Tag genau fünfzig Jahre früher, als das Festival noch "Berliner Jazztage" hieß, hatte eine Großformation um Pianist und Komponist Alexander von Schlippenbach Premiere mit einem Stück, das "Globe Unity" hieß. Die Band nannte sich fortan Globe Unity Orchestra. Und jetzt also die Jubiläumsfeier: mit einem kleinen Kern noch lebender Gründungsmitglieder, neben Alex von Schlippenbach der Saxophonist Gerd Dudek und der Trompeter Manfred Schoof; sowie jüngeren Geistesverwandten wie Bassklarinettist Rudi Mahall und Posaunist Gerhard Gschlößl. Eine knappe Stunde Kollektiv-Improvisation mit deutlich erkennbar organisierten Einlagen von Solisten und immer wieder anderen, herausgehobenen Instrumentengruppen: Das war hier zu erleben und kam mit einer Lust und Energie daher, als wären die fünfzig Jahre vielleicht nur zehn. Auch wenn diese 18-köpfige Vereinigung der Radikal-Individualisten ihren Jazz hier nicht aus der Klangwelt befreite, die auch beim Free-Jazz irgendwann konventionell geworden ist: Diese raubeinige, unangepasste Jazz-Geschichtsstunde hatte fesselnde Momente. Neue Horizonte aber steckten andere ab - zum Beispiel Eve Risser mit der Liebe zu den Canyons am allerletzten Abend.