Sechs Tage Jazz in der Hauptstadt: der Zauber vielfältiger Klangsprachen - kreative Experimente, swingender Glanz und fesselnder Hip-Hop-Jazz. Am 5. November ging das Jazzfest Berlin zu Ende. Es war das dritte und letzte Jahr von Programmgestalter Richard Williams.
Bildquelle: Camille Blake
Ein Freigeist mit Taktstock: Er steht vor einer bunt gemischten Musiker-Ansammlung mit Instrumenten wie chinesischer Zither, iranischer Stachelgeige, indischen Trommeln, Harfe, Akkordeon, Gitarre, Trompete, Saxophon, Violine, Bratsche, Cello und anderem mehr. Zwanzig in Berlin lebende Musiker aus unterschiedlichsten Herkunftsländern: Sie improvisieren, während ein Gast aus den USA sie dirigiert. Der Schlagzeuger, Komponist und musikalische Konzeptkünstler Tyshawn Sorey war letzte Woche beim 54. Jazzfest Berlin der erste "Artist in Residence" bei diesem traditionsreichen Festival. Am letzten Abend leitete er eine Aufführung auf der Großen Bühne im Haus der Berliner Festspiele, das völlig unterschiedliche Klangsprachen zusammenbrachte. Ergebnis: ein faszinierendes Mosaik von Klängen, die auch noch groovten.
Sorey stand dabei an einem Dirigentenpult, deutete mit dem Stab auf jeweilige Musiker, schrieb Anweisungen auf Papierblätter, die er hoch hielt, gab Zeichen mit den Fingern und überlagerte auch mal mehrere Ausdrucksschichten, in dem er drei Taktstöcke zu einem umgekehrten T formte, um gleichzeitig unterschiedliche Instrumentengruppen zu lenken. Lyrische Melodien, wilde Ausbrüche und leises, fremdartiges Saitenzirpen ergaben ein Klangspektrum voller ungewöhnlicher Farbtöne, entfalteten immer wieder bohrende Energie bei zwingender Dramaturgie fast ohne Längen. Auf Prinzipien des Dirigierens freier Musik, die einst der amerikanische Improvisationsmusik-Vordenker Butch Morris erfand ("Conduction"), griff Tyshawn Sorey hier zurück - und bescherte dem Jazzfest Berlin damit ein einzigartiges Ereignis, mit dem das diesjährige Festival-Motto "In all languages" besonders schlüssig eingelöst wurde.
Der Saxophonist Shabaka Hutchings | Bildquelle: Camille Blake Der stille Engländer Richard Williams präsentierte bei dem Festival sein drittes und letztes Programm als Künstlerischer Leiter. Sein Vertrag war von vorneherein auf drei Jahre angelegt. Williams sorgte in dieser Zeit für einen Aufschwung in der Besucherresonanz und für neue Ansätze. Letztes Jahr etwa präsentierte er ebenso viele weibliche wie männliche Bandleader bei dem Festival. Dieses Jahr integrierte er auch Hip-Hop-Jazz an einem neuen Jazzfest-Spielort. Und zwar dem "Lido" im östlichen Kreuzberg, einem Raum mit riesiger Disko-Kugel an der Decke, in dem sonst Indie-Rock und sonstige aktuelle Popmusik-Klänge zuhause sind. Mit der Band des englischen Tenorsaxophonisten Shabaka Hutchins, der mit Musikerkollegen aus Südafrika auftrat (Shabaka and the Ancestors) hatte das Festival einen frühen Höhepunkt. Kraftvolle Melodielinien, brodelnde Rhythmen und effektvolle Wort-Performances bewegten ein im Durchschnitt auffällig junges Publikum. Ähnlich ging es weiter: Täglich gab es bei diesem Festival besondere Highlights. Das Motto "In all languages" (geliehen von einem Album-Titel der Free-Jazz-Ikone Ornette Coleman) war, wie stets bei Richard Williams, auch weltpolitisch motiviert: Es sollte eine Kunstform repräsentieren, die besonders intensiv kommuniziert und dabei den Reichtum ihrer Unterschiede auslebt, während Politiker in unterschiedlichen Teilen der Welt sich anschicken, Mauern zu bauen und ihre Kulturen von anderen abzuschotten.
So gab es bei dieser Ausgabe des Jazzfests Berlin Jazz-Kunstmusik mit süd-indischen Einflüssen, brasilianische Songs aus den Zeiten der Militärdiktatur von 1964 bis 1985, norwegische Stimmen und Bigband-Sounds, eine groovende Hammond- und eine übersinnlich gespielte Kirchenorgel, Love-Songs als Gitarren-Instrumentals mit Kammerorchester, klirrend-expressiven Avantgarde-Jazz, virtuos-swingende Jazz-Hochkultur sowie eine Reihe von Begegnungen unter dem Titel "Berlin-London Conversations". Und die Sache ging verblüffend gut auf.
Was dieses Festival aus der Szene anderer Jazz-Großveranstaltungen heraushob, war eine besonders starke Häufung von Projekten, die es nur bei diesem Berliner Jazzfest gab. Das Mehrfach-Feature von Tyshawn Sorey gehörte dazu. Sorey war auch in seinem Trio mit Pianist Cory Smythe und Bassist Chris Tordini zu erleben, das in weite, sich ganz allmählich entwickelnde Klanglandschaften führte, sowie im voll explosiver Kreativität steckenden Duo mit dem Berliner Saxophonisten und Bassklarinettisten Gebhard Ullman - und schließlich auch als Begleiter der atemberaubend temperamentvollen und virtuosen Saxophonistin Angelica Niescier, die bei diesem Festival den Albert-Mangelsdorff-Preis verliehen bekam: die wichtigste deutsche Jazz-Auszeichnung. Diese Begegnungen mit ein und demselben Musiker - der, geboren 1980, noch relativ jung ist - waren eine spannende Gelegenheit zum Entdecken und Tiefer-Einsteigen.
Der Trompeter Ambrose Akinmusire | Bildquelle: Camille Blake Ebenfalls eigens für dieses Festival komponierte der amerikanische Trompeter Ambrose Akinmusire ein Programm, mit dem er an eine fast vergessene Blues-Sängerin erinnerte. Mattie Mae Thomas hieß diese Sängerin; von ihr existieren nur vier einzelne Stücke, die alle 1939 im Staatsgefängnis von Mississippi aufgenommen wurden - von einem Musikforscher, der Songs von Gefangenen dokumentierte. Akinmusire war schon beim ersten Hören gefesselt von diesen Aufnahmen; denn sie erinnerten ihn an das Lieder-Summen seiner Großmutter, die ebenfalls vom Mississippi stammte. Und so kam es, dass Akinmusire und seine hervorragend besetzte Band - Gerald Clayton, Klavier, Marvin Sewell, Gitarre, Joe Sanders, Kontrabass, Kendrick Scott, Schlagzeug, und Dean Bowman, Gesang - eine Hommage an Mattie Mae Thomas aufführten. Die klagenden Originalgesänge wurden dabei bisweilen aus dem Off eingespielt - und die soulige Stimme von Dean Bowman führte sie dann in anderer Tonlage kongenial fort. Ambrose Akinmusire legte über das Ganze immer wieder seinen melancholischen Trompetenton, der im Moment weltweit seinesgleichen sucht. So weich und zugleich so klar spielt kein anderer Jazztrompeter. Akinmusire schafft dabei eine Schönheit und Innigkeit des Klangs, die den Hörer vollkommen absorbieren kann.
Hammond-Orgel-Legende Dr. Lonnie Smith | Bildquelle: Camille Blake "Beauty with a meaning" ist, laut seiner eigenen Auskunft, das, worauf es dem Jazzfest-Programmgestalter Richard Williams besonders ankam: Schönheit, die eine Aussage transportiert. Bei Akinmusire, bei Shabaka Hutchins, bei Tyshawn Sorey und manchen anderen in diesem Programm waren diese Qualitäten zu beobachten. So bewegende Konzerte wie dasjenige des Organisten Kit Downs und der außergewöhnlichen Vokalgruppe "Trondheim Voices" im Nachkriegs-Anbau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche oder auch dasjenige des Groove-Meisters Dr. Lonnie Smith im Haus der Festspiele sorgten für ungewöhnliche Erlebnis-Intensität. Dr. Lonnie Smith, ein weißbärtiger Turban-Träger mit genüsslich schwelgendem Blick, brachte mit seinem Trio das effektvollste Show-Stück des Festivals zuwege. Großer Jubel, als er, während seiner Partner weiterspielten, mit einem Gehstock die Bühne verließ und wenige Minuten später lässig hereintanzte, den Stock (vielleicht war es gar nicht derselbe) plötzlich in den Händen haltend wie eine Bassgitarre – und was er darauf an elektronischen Tönen erzeugte, groovte mitreißend. An der Orgel demonstrierte er in Stücken wie dem Klassiker "Straight No Chaser" - dessen Melodie er in Fragmente zerlegte und sie dann in geschicktester Steigerung wieder zusammensetzt - sein Ausnahme-Gespür für musikalische Rhetorik. Sein Gitarrist Jonathan Kreisberg stand ihm mit seiner elegant-klangvollen Linienführung aber nicht wirklich nach.
Eher schwache Konzerte gibt es auch in sehr starken Festival-Jahrgängen. Die NDR Bigband unter der Leitung des für seinen kantigen Klang-Eigensinn bekannten Norwegers Geir Lysne blieb mit dem Programm "Abstracts of Norway" viel zahmer als erwartet. Und das Programm "Lovers" von Gitarrist Nels Cline, bekannt von der Gruppe Wilco, klang im Hauptkonzert am Samstagabend gemächlich dekorativ und gediegen erregungsfern. Solche Momente waren beim Jazzfest 2017 aber die Ausnahme; mehr Konzerte schufen Augenblicke, die im Gedächtnis bleiben, etwa das lange, intensive Solo-Konzert des deutschen Pianisten Michael Wollny, ein melodisch-rhythmischer Marathon zum Schwelgen; oder - Kontrast - das Gesprächskonzert des 83-jährigen französischen Pianisten René Urtreger, der vor fünf Jahrzehnten an Miles Davis' Filmmusik zu Louis Malles Streifen "Fahrstuhl zum Schafott" mitwirkte und launig von seinen Erlebnissen mit Miles Davis erzählte. Der war damals offenbar zunächst mehr an Urtregers Schwester interessiert als an den Tönen des Pianisten. Die folgten dann aber - und noch heute fasziniert der Soundtrack des Films, der beim Festival ebenfalls gezeigt wurde.
Saxophonistin Christine und Trompeterin Ingrid Jensen | Bildquelle: Camille Blake Späte Erinnerungsmomente gab es beim Finale des Festivals mit den kanadischen Schwestern Ingrid und Christine Jensen - die eine Trompeterin und die andere Saxophonistin - und ihrer aktuellen Band: Unter ihren Stücken war auch eine freie Paraphrase auf den Woody-Guthrie-Song "This land is your land" mit Bläserstimmen, die die Song-Melodie oft nur andeuteten und einander in lustvoll wilder Schönheit so freischwebend umkreisten, dass eine eigene politische Botschaft daraus wurde: ein tönendes Plädoyer für Bewegungsfreiheit. Das ergänzte direkt danach ein Big-Band-Konzert der virtuosen Sonderklasse noch einmal ganz anders: Das "MONK'estra" des Pianisten und Dirigenten John Beasley mit Trompeter Till Brönner als zu besonders konturenscharfen Soli herausgefordertem Gast ließ zu Klassikern des Modern-Jazz-Ahnen Thelonious Monk ("Evidence", "Blue Monk") die Arrangement-Funken sprühen - so dass vertraute Themen plötzlich ungeahnte Wendungen und Biegungen nahmen. Jazz ist, wenn man's anders macht, am besten "in all languages". Berlin 2017 zeigte, dass das geht.
Im Jahr 2018 geht es mit der neuen Künstlerischen Leiterin Nadin Deventer weiter.
Live aus dem Haus der Berliner Festspiele am 04. November 2017 von 20.05 bis 0.00 Uhr
ARD-JazzNacht am 05. November 2017 von 0.05 bis 6.00 Uhr