Das Jazzfest Berlin geht neue Wege, so wurde es im Vorfeld berichtet. Am Sonntag ist ein buntes, aufreibendes und doch sinnliches Festival zu Ende gegangen.
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Alleine sitzt er im roten Licht. Graue Haare, Brille mit dickem Rand, schüchterner Blick. Über Tausend Menschen auf der anderen Seite und dazwischen - Musik. "Music is", so heißt das aktuelle Programm von Gitarrist Bill Frisell, das beim Abschlusskonzert des Jazzfests Berlin 2018 in Deutschland zum ersten Mal zu erleben war.
Ein Ruhepunkt zum Ende von vier aufreibenden, aufregenden und aufwändigen Tagen. Nur Musik, einfach großartig. Bill Frisell zaubert Wärme ins Haus der Berliner Festspiel, hochkomplexe Klänge im Gewand einer Cowboy-Melodie, Jazzstandards genial fragmentiert und trotzdem ganz nah am schwelgenden Herz und nicht nur an der analytischen Gehirnwindung. Und ganz am Ende dann noch ein offener, charmanter und genauso knisternder Gitarren-Dialog mit der fast dreißig Jahre jüngeren Instrumentenkollegin Mary Halvorson. Die amerikanische Gitarristin war "Artist in Residence" bei der diesjährigen Jazzfest-Ausgabe und durfte gleich vier Projekte präsentieren vom Trio bis zu ihrem aktuellen Oktett. Introvertierte Musik mit sehr eigenem Sound macht Halvorson, mit einem Höchstmaß an Perfektion und einem Sinn fürs Unerwartete. Musik weit weg vom Event.
Event gab es aber auch. Eröffnet wurde das Jazzfest mit einem Wandelkonzert, das nicht selten zum gehetzten Wechseln zwischen fünf unterschiedlichen Bühnen wurde. Erstmals erhielten die Jazzfestbesucher Zutritt zur sogenannten Unterbühne, einem runden Raum direkt unterhalb der Drehbühne im Haus der Berliner Festspiele. Eine Katakombe, in der zur Sound-Performance des frei improvisierenden Berliner KIM Collectiv ein Feeling zwischen Geisterbahn und Tropfsteinhöhle aufkam. Eine neue Erfahrung, die Lust auf mehr Klang-Erkundung im Stammhaus des Jazzfestes macht.
Pianist Elias Stemeseder beim Jazzfest Berlin | Bildquelle: © Camille Blake
Zehn Auftritte gab es den Abend über, manchmal gelang das Wandeln, manchmal nicht. Besonders daneben ging es bei Pianist Elias Stemeseder, der seine herausragenden fragilen Solostücke zu Hintergrundklängen des wild-drauflos-groovenden "Trio Heinz Herbert" hintupfte. Für den Musiker die größte, fürs Publikum aber auch eine Herausforderung.
Dieses "Grand Opening" des "Haus of Jazz" war einer der großen Diskussionspunkte beim Jazzfest. Stressig, nervig, anstrengend, eine latente Überforderung, so waren teilwiese die Rückmeldungen; und das kann man als direkten Erfolg für das neue Organisationsteam mit Nadin Deventer als künstlerischer Leiterin an der Spitze verbuchen. Raus aus dem Komfort, rein in den Diskurs.
Trompeterin Jaimie Branch beim Jazzfest Berlin | Bildquelle: © Camille Blake Ähnlich wuchtig begann der Freitagabend, zunächst geprägt von der Expressivität zweier sehr unterschiedlicher Künstlerinnen. "Hardcore Poetry", so wird beschrieben, was die Vokalkünstlerin Moor Mother macht. Mit dunkler Stimme und düsteren Effekten schoss sie ihre Phrasen in die flirrenden Improvisationen der Band "Irreversible Entanglements". Mit dem explosionsartigem Timing einer Rapperin, aber der Laid-back-Phrasierung einer Bluessängerin setzen die Worte Moor Mothers immer wieder Stolpersteine in die Musik. Jaimie Branch, US-Trompeterin in den Avantgarde-Szenen New Yorks und Chicagos aktiv, präsentierte ihr Quartett und ihr aktuelles Album "Fly or Die". Mit aggressiver Punk-Attitüde musizierte die 35-Jährige und formte mit großem erzählerischen Gestus und sehr viel Power ihre Trompetensalven. Für viele ein Highlight, für manche wegen der durchweg ungenauen Intonation der Bandleaderin und des Cellisten ihrer Band ein mäßiger Genuss.
Das Cello in dieser Powerband war nur eines von vielen Streichinstrumenten, die beim Jazzfest Berlin Einsatz fanden. So viel gestrichen wurde selten. Fast jedes Ensemble, besonders die Projekte der amerikanischen Musikerinnen und Musiker wurden durch Streichinstrumente erweitert, die nicht nur klangliche Nebendarsteller, sondern teils echte Hauptpersonen waren.
Auch das legendäre "Art Ensemble of Chicago", das in diesem Jahr sein 50-jähriges Bestehen feiert, kam in einer Special Edition fürs Jazzfest Berlin nicht ohne Geige, Bratsche und Cello aus. Das Konzert begann mit diesen Farben und war lange wohl eines der im Klanggewand europäischsten des Festivals. Erst mit Einsatz des Drummers Famoudou Don Moye, seit den frühen 70er Jahren beim Art Ensemble dabei, öffnete sich der Klangraum zur ganzen Musikwelt hin. Als dann noch Jaribu Shahid einen kraftvoll-swingenden Walking-Bass erklingen ließ, war man mitten hineingezaubert in die Jazztradition der Grenzenlosigkeit. Aus alt wird neu, aus neu wird alt, Melodie wird radikal und Dissonanz zum Mainstream. Ganz im Sinne des Art Ensemble-Erfinders Roscoe Mitchell, der mit 78 Jahren immer noch auf der Suche ist, lernt und die Zuhörer an seinen Erforschungen zwischen Geräusch, Quietschen und in sich gekehrter Ekstase teilhaben lässt.
Jason Moran - The Harlem Hellfighters | Bildquelle: © Camille Blake Vergangenheit und Gegenwart verbinden, das gelang vielleicht in Jason Morans Projekt "Harlem Hellfighters" am besten. Eine Meditation nennt der Pianist das Ganze. Musik, die der afroamerikanische Kapellmeister und Komponist James Reese Europe komponiert oder bearbeitet hat für das aus Afroamerikanern bestehende 369. Corps der US-Army, das im Jahr 1918 im ersten Weltkrieg eingesetzt wurde. Musik für den Krieg als Statement für Frieden, Gleichberechtigung und Anerkennung der afroamerikanischen Kunst in der US-Geschichte, hervorragend gespielt und durch die große musikalische Kraft des Bandleaders getragen.
Ganz viel sollte anders sein beim Jazzfest Berlin 2018: Es wurde gelabelt, gebrandet, gepanelt, geliket, getagget und so weiter. Das trägt alles zum neuen Bild bei, kommt nicht unbedingt aus dem Bereich der Jazzfestival-Kultur und liefert oft einen Bedeutungs-Überbau, der dann nicht immer mit dem entsprechenden Inhalt gefüllt werden kann. Die Musik braucht diese neuen Begrifflichkeiten nicht, aber vielleicht unsere Gesellschaft. Insofern geht das Jazzfest Berlin neue Wege, die in eine Zukunft blicken.
Gibt es dann auch eine Musik, die für sich selbst steht, die eine Aussage hat, ohne dass ein Modewort dafür erfunden werden muss? Eine Musik, die einfach ist und zugleich vielschichtig? Es gibt sie. Sie ist so wie die des grauhaarigen Mannes und seiner jungen Instrumentenkollegin. Wenn die Musik einen ganz weiten Bogen spannen darf zwischen all den Punkten, an die Jazz anknüpfen kann, dann glückt die Neuausrichtung. Der Grundstein dafür ist gelegt.