"Vocalese" bedeutet: instrumentale Swing- und Bebop-Stücke mit Texten zu versehen und zu singen. Als exzellenter Vokalist und Mann des Wortes war Jon Hendricks Mitbegründer dieses Genres – und einer der Besten darin. Sein Erfolg begann mit dem Gesangtrio "Lambert, Hendricks & Ross". Am 16. September vor einhundert Jahren wurde der Musiker geboren.
Bildquelle: Bayerisches Jazzinstitut/Ludwig Binder
Jon Hendricks lebte Mitte der 1950er-Jahre wie Dave Lambert in New York. Dieser hatte sich schon in den 1940er-Jahren in der Band von Gene Krupa und später bei Stan Kenton einen Namen als Bebop-Sänger gemacht - in einer Disziplin, die gerade erst in ihren Anfängen steckte.
Lambert lud Jon Hendricks zu Aufnahmen mit seinen Dave Lambert Singers ein. Das war die Initialzündung für die Gründung des Gesangstrios Lambert, Hendricks & Ross, dessen Debütalbum "Sing a song of Basie" im Jahr 1958 erschien. Im Anschluss daran wurde das Vokalensemble fünf Jahre in Folge von der Musikzeitschrift Melody Maker als "Number One Vocal Group in the World" geführt.
Es war Jon Hendricks Idee, die Melodielinien und Improvisationen von Instrumentalstücken nicht nur mit Silben als "Scat" zu singen, sondern auch Texte dafür zu schreiben. Das konnte und kann Jon Hendricks wie kein anderer, er ist nicht nur ein exzellenter Sänger, sondern auch ein Mann des Wortes. Vom Jazzjournalist Leonard Feather wurde er deswegen "James Joyce of Jive" genannt. Seine Triokollegin Annie Ross merkte dazu an, dass die Texte geradezu aus ihm heraussprudelten und er sie in Kurzschrift niederschriebe, als ob er einen Brief schreiben würde. Sie sind witzig, treffend, nehmen manchmal Bezug auf Jazzmusiker und Bandleader und haben oft auch die Qualität eines regelrechten "Stream of Conciousness": Der Vergleich mit James Joyce ist also absolut gerechtfertigt.
Jon Hendricks kam nicht zufällig zu seinem enormen musikalischen und lyrischen Talent. Am 16. September 1921 wurde er als siebter Sohn eines Reverends in eine Familie mit 14 Geschwistern hineingeboren und in eine Zeit, die schon bald von der Großen Depression geprägt sein sollte. Die musikalische Ausbildung für Jon Hendricks begann schon früh. Und zwar in der Kirche seines Vaters: Dort wurde er bereits als Kind Vorsänger im Chor.
Doch auch die weltliche Musik war keinesfalls ausgeklammert im Hause der in Toledo (Ohio) lebenden Familie Hendricks, die mit Fats Waller befreundet war, aber vor allen Dingen mit dem Pianisten Art Tatum, der ein paar Straßen weiter wohnte. Tatum wurde zum Lehrer und Mentor von Jon Hendricks, und ihm war es auch zu verdanken, dass der begabte Junge, der so wunderbar Klavierimprovisationen nachsingen konnte, bald im Radiosender von Toledo und in den von Schwarzen und Weißen frequentierten "Black and Tan"-Nightclubs der Stadt auftrat. Eigentlich war er zu jung dafür. Aber es ließ sich irgendwie deichseln und Jons finanzielle Einnahmen war ein Segen für die von der Depression gebeutelte Familie.
Jon Hendricks verdiente also schon als Kind ganz ordentlich. Zu diesem Verdienst trugen auch mal große Trinkgelder von Mafiosi und anderen, die an der Prohibition verdienten, bei - wie er vor einigen Jahren während eines Vortrags an der Universität von Toledo berichtete. So lernte Jon Hendricks schon früh nicht nur viel über die Musik, sondern auch übers Leben und darüber, was es bedeutet, ein Entertainer zu sein.
"Wenn Du auf die Bühne gehst, musst Du - egal in welcher Verfassung du bist - wie aus dem Ei gepellt aussehen und die Lichter anknipsen", lautet seine Devise bis heute. Für den jungen Entertainer hätte es auch einfach immer so weitergehen können, aber mit dem Zweiten Weltkrieg und seinem Militärdienst in Europa kam es zu einer krassen Zäsur. Danach begann er, Jura zu studieren mit einem Militärstipendium, das allerdings zu knapp bemessen war, um das Studium abschließen zu können. Weswegen Jon Hendricks auf Empfehlung von Charlie Parker nach New York ging, wo sein Aufstieg als Jazzsänger begann.
1957 sangen Lambert, Hendricks & Ross in New York ihr erstes gemeinsames Album ein. Dank des Mehrspurverfahrens, das zu dieser Zeit den Kinderschuhen so halbwegs entwachsen war, konnten die die drei darauf alle Stimmen von Arrangements und Soli des Count Basie Orchestras singen. Ursprünglich sollte ein Chor aus Studiosängern Dave Lambert und Jon Hendricks begleiten und die englische Sängerin Annie Ross war engagiert worden, um den Chor zu coachen. Sie war damals schon durch ihre Arbeit mit Lionel Hampton bekannt. Aber vor allen Dingen hatte sie sich einen Namen durch ihre 1952 erschienene Vocalese-Version einer Improvisation des Saxophonisten Wardell Gray über seine Komposition "Twisted" gemacht. All ihre Bemühungen, den Studiosängern das für die Einspielung unabdingbare Swing-Feel beizubringen, erwiesen sich als zwecklos. Sie hatte es aber natürlich "drauf" und wurde so zur Dritten im Bunde - und zumTeil der Erfolgsgeschichte.
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Lambert Hendricks and Ross airegin
Lambert, Hendricks & Ross mit "Airegin", einer Komposition des Saxophonisten Sonny Rollins.
Nur wenigen in der Nachfolge dieses Ensembles singenden Vokalgruppen ist so viel Raffinesse, soviel Feinschliff bei so viel Lockerheit, soviel Swing, Charakter und stimmliche Strahlkraft gegeben wie diesem Trio, das mit seinen Aufnahmen viele inspiriert hat. "Manhattan Transfer" und die "New York Voices" sind die bekanntesten darunter. Bis 1962 arbeiteten Lambert, Hendricks & Ross zusammen, tourten exzessiv, und nahmen sieben Alben auf, teilweise zwei pro Jahr. Dann zog sich Annie Ross erschöpft aus der Band zurück. Ihren Part übernahm die aus Ceylon stammende 20-jährige Sängerin und Schauspielerin Yolande Bavan. Nur noch ein weiteres Jahr und drei Live-Alben lang sollte die Zusammenarbeit währen. Dann brach die Band auseinander. Und bevor Dave Lambert und Jon Hendricks eine ernsthafte Neugründung in Angriff nehmen konnten, starb Dave Lambert 1966 bei einem Verkehrsunfall.
Bildquelle: Bayerisches Jazzinstitut/Ludwig Binder Bevor Jon Hendricks mit Frau und fünf Kindern 1968 zwischenzeitlich nach Europa zog, nahm er mit dem Pianisten Thelonious Monk noch ein Stück für dessen Album "Underground" auf. In London gründete er die Gruppe "Jon Hendricks and Company", zu der neben Annie Ross auch der Keyboarder Georgie Fame gehörte, mit der er in Europa und Afrika auftrat, hatte Engagements im britischen Fernsehen und wirkte bei zwei Filmen mit: "Jazz is our Religion" und "Hommage à Cole Porter". 1973 kehrte er in die U.S.A zurück, zunächst nach Kalifornien. Dort arbeitete Jon Hendricks als Kritiker beim "San Francisco Chronicle", lehrte an den Universitäten in Sonoma und Berkeley, schrieb das Theaterstück "Evolution of the Blues", das fünf Jahr in Folge in San Francisco und Los Angeles lief. Und Hendricks drehte einen Dokumentarfilm mit dem Titel "Somewhere to lay my weary head", der mit einem Emmy und einem Peabody Award ausgezeichnet wurde.
Musik machte Jon Hendricks natürlich auch immer, unter anderem mit seiner Frau Judith und seinen Töchtern Aria und Michelle. 1985 nahm er mit "Manhattan Transfer" das mit sieben Grammys gekürte Album "Vocalese" auf. 1990 folgte unter anderem mit Bobby McFerrin, Al Jarreau und dem Count Basie Orchestra die CD "Freddie Freeloader". Im Jahr 2000 wurde ihm in seiner ursprünglichen Heimatstadt Toledo die Ehrendoktorwürde zuerkannt. Dort unterrichtet er Jazz und Performing Arts und hat ein fünfzehnköpfiges Vokalensemble, das "Vocalstra", gegründet.
Bildquelle: Jon Hendricks Im Jahr 2003 ging Jon Hendricks noch gemeinsam mit den Sängerkollegen Kurt Elling, Mark Murphy und Kevin Mahogany auf Tour. "Four Brothers" nannten sie sich. Noch bis 2012 konnte man immer wieder von unangekündigten Gastauftritten bei befreundeten Musikern lesen. Für einen Londoner Jazzchor schrieb er außerdem Arrangements und Texte für Stücke aus dem Miles Davis Album "Miles ahead", wie er 2014 in einem Interview erzählte, in dem auch der Satz fiel: "I´m not finished, I´m just on the third rail." Auf dieser „Stromspur“, die bei ihm immer auch Überholspur war, blieb Jon Hendricks bis kurz vor seinem Tod am 22.November 2017. Er wurde 96 Jahre alt.
Sendung: "Jazztime" am 16. September 2021 um 23:05 Uhr auf BR-KLASSIK