Ein heterogener Stilmix mit viel tanzbarem Jazz, gesellschaftskritische Ansätze und reichlich mitreißende Musik. Das sechste NUEJAZZ Festival punktete auf vielen Ebenen: mit einem London Schwerpunkt und Top Acts vom Kaliber des Schlagzeugers Antonio Sanchez.
Bildquelle: Uwe Niklas
Opernhaus Nürnberg am Abend des 16. November. Die Polizei ist da - zumindest akustisch. Mit einer Klangcollage, in der zu hören ist, wie mexikanische Einwanderer in den USA auf der Straße verhaftet oder aus ihren Wohnungen herausgeholt und abtransportiert werden, beginnt das Konzert des Schlagzeugers Antonio Sanchez. Mit dem brandneuen Programm "Lines in the sand" seiner 2011 gegründeten Band "Migration" ist er der Top Act des sechsten NUEJAZZ Festivals in Nürnberg. Der Musiker mit mexikanischer und US-amerikanischer Staatsangehörigkeit ist seit fast 20 Jahren mit Gitarrist Pat Metheny assoziiert und weltbekannt geworden. Parallel dazu hat sich der virtuose Spieler als Bandleader und Komponist profiliert. Er empfindet es als die Aufgabe von Künstlern, sich mit politischen und gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen. Im Blick hat er dabei die Lage der Einwanderer in den USA, aber auch bedrohte Demokratien weltweit.
We have a responsibility to speak up through our art.
Den politischen Anspruch hört man in der Musik von Antonio Sanchez über weite Strecken nicht anklingen. Der großartig gespielte, metrisch anspruchsvolle Fusionjazz mit rockigen Sounds von Keyboards und E-Bass im Dienst wohlklingender Melodiebögen, die vom Saxofon und der meist ohne Text singenden Vokalistin Thana Alexa ausgestaltet werden, ist gleichwohl mitreißend - nicht zuletzt wegen seiner fulminanten Improvisationshöhepunkte. Die gab es auch bei anderen Bands im Festivalprogramm zuhauf - mit dem Unterschied, dass man dazu tanzen konnte, denn einige Konzerte in der Kulturwerkstatt auf AEG waren unbestuhlt. Eine andere Darreichungsform wäre für die "Sons of Kemet" rund um Saxofonist Shabaka Hutchings auch wirklich nicht denkbar gewesen, denn was sie spielen, reißt jeden vom Stuhl.
"Sons of Kemet" in der Kulturwerkstatt Auf AEG | Bildquelle: Uwe Niklas Zwei Schlagzeuger, ein Tubist und der Bandleader an Saxofon und Klarinette. Unendlicher Groove, der regelrecht zur Meditation wird, afrikanische und karibische Rhythmen kombiniert mit New Orleans Second Line-Läufen, kantige Themen, zwingende Riffs und ekstatische Soli. Die energiegeladenen Konzerte der "Sons of Kemet" sind legendär. Ihr aktuelles Programm heißt "Your queen is a reptile". Im Kontrast zur englischen Königin haben sie herausragende Frauen afrikanischer Herkunft zu ihren Königinnen gemacht und widmen ihre Stücke Bürgerrechtlerinnen, Freiheitskämpferinnen und Wissenschaftlerinnen aus drei Jahrhunderten.
Den Mythen der westlichen Welt die eigenen Mythen entgegenzusetzen ist ein wichtiges Motiv für Shabaka Hutchings, dessen Familie von der Insel Barbados stammt. Mit der hypnotischen Musik seiner Band "Sons of Kemet" eröffnet er dem Publikum einen Raum der Selbstwahrnehmung.
Everyone's within a flow of energy.
Die junge Londoner Jazzszene befindet sich im Aufwind. Mit großem Elan und Selbstbewusstsein und unter anderem unterstützt vom BBC Jazz DJ Gilles Peterson haben sich etliche Bands dort schon einen fast popmusikalischen Bekanntheitsgrad erspielt. Viel junges Publikum strömt zu den Konzerten der stilistisch heterogenen Szene. Was sie an Inhalten und Vielfalt zu bieten hat, brachten Gitarrist Frank Wuppinger und Bassist Marco Kühnl - sie sind die Macher des NUEJAZZ Festivals aus den Reihen des Nürnberger Jazzmusikervereins - an vier von insgesamt sechs Festivaltagen mit ihrem London Schwerpunkt auf die Bühnen in Nürnberg und Erlangen.
Wir haben gesehen, dass gerade in London die Verbindung zwischen Popkultur und Jazz viel enger ist als bei uns. Das hat uns gefallen, und deswegen haben wir das einfach mal zum Thema gemacht.
In Eigeninitiative die Sache des Jazz voranbringen, ihn aus den Peripherien des Musikgeschehens in die Wahrnehmung eines größeren und auch jüngeren Publikums zu bewegen, das ist eines der wichtigen Anliegen des NUEJAZZ Festivals. Dabei gleichzeitig die Fangemeinde der Kenner und Spezialisten zufrieden zu stellen und Menschen zu interessieren und zu begeistern, die bis dato nichts mit Jazz zu tun hatten oder ihn für verkopfte, anstrengende Musik halten, ist kein leichtes Unterfangen.
Saxophonistin Nubya Garcia von der Band "Maisha" | Bildquelle: Uwe Niklas Während das Vels Trio und der Pianist Bill Laurance mit ihren Programmen bei den Jazz-Neueinsteigern und -Neueinsteigerinnen im Publikum bestens ankamen, war ihre fast popmusikalische Ästhetik für erfahrene Jazzfans wahrscheinlich eher zu leichte Kost. Und auch der Klaviertrio-Jazz von Pianist Ashley Henry vielleicht eine Spur zu harmlos. Völlige Übereinstimmung aller Parteien aber schien beim Londoner Sextett "Maisha" zu herrschen: das ausverkaufte Haus war begeistert. Junge Menschen jeden Alters tanzten, johlten und jubelten zum Spiritual Jazz einer Band, die sich deutlich am 60er-Jahre Sound von John Coltrane und Pharoah Sanders orientierte und mit zwei Frauen in der Frontline überzeugte: der Gitarristin Shirley Tetteh und der Saxofonistin Nubya Garcia.
An diesem letzten Festivalabend hätte man sich - wie auch schon an den Abenden zuvor - manchmal zweiteilen mögen. Denn während im großen Saal der Kulturwerkstatt auf AEG die Euphorie hohe Wellen schlug, gab es auch im 20 Meter entfernten Labor mitreißenden Jazz. Hier wurde er von Bands aus Franken geboten. Eine Hommage an Herbie Hancocks Headhunter Band zum Beispiel von Größen der regionalen Szene, außerdem eigene Kompositionen vom Quartett des Saxofonisten Lukas Diller, der Sängerin Linda Mund und des Trios "Telecommander Music". Auf dem Weg zwischen den Konzertsälen lockte noch ein weiteres, exklusives Angebot: eine Ausstellung mit ausdrucksstarken Schwarz/Weiß Fotografien Musiker und Musikerinnen aus London, die Magnus Contzen im September in der englischen Hauptstadt gemacht hat. Und dann natürlich: jede Menge Gespräche an der Bar, beim Imbiss zwischendurch, in den Gängen und Sälen, beim "Meet & Greet" mit den Künstlern und Künstlerinnen, die sich bestens umsorgt und gut gelaunt unters Publikum mischten.
Schlagzeuger Makaya McCraven | Bildquelle: Uwe Niklas Darunter auch der amerikanische Schlagzeuger Makaya McCraven, der sich im Sinne der permanenten Selbsterneuerung des Jazz als Traditionalist wahrnimmt, sowie Schlagzeuger Zach Danziger und Bassist Owen Biddle, die beim audio-visuellen Set ihres Duos "Edit Bunker" heftig mit der Elektronik kämpften und mit Bravour und viel Humor unterlagen. Außerdem: die Stil-Eklektiker des spaßigen, dänischen Trios "Ibrahim Electric", die mit Respekt und Liebe musikalische Klischees aufs Korn nehmen.
Und zum Abschluss in der Samstagnacht dann noch einmal: Abtanzen zum 80er-Jahre Sound des Trios "Die Japanische Clubjacke" mit dem Jazztrompeter Tobias Weidinger. Um dann am Ende - mit viel guter Musik und Spirit befüllt - festzustellen, wie einfach unübertroffen das Live-Erlebnis im Jazz ist und wie beflügelnd die Atmosphäre an diesem Ort. Mit dem NUEJAZZ Festival ist Nürnberg auf jeden Fall wieder zum internationalen Standort in der Festivallandschaft geworden und pusht damit gleichzeitig auch die regionale Szene. Hut ab vor dieser gelungenen Initiative und allen, die - zum großen Teil im Ehrenamt - an seiner Umsetzung mitwirken.