Die Musik von Quadro Nuevo ist im besten Sinn Weltmusik. Sie hat sich immer aus der Begegnung mit der Kultur anderer Länder gespeist. Unter dem Motto "Volkslied Reloaded" unternehmen die Weltmusik-Künstler zusammen mit dem Münchner Rundfunkorchester eine abenteuerliche Reise in die Jahrhunderte und spüren magnetischen Klängen aus der Heimat und aus der ganzen Welt nach.
Bildquelle: Quadro Nuevo
"Jetzt, während wir diese Lieder spielen, verändert sich der Blick auf das Deutschland, in dem wir so viel unterwegs sind", erzählt Mulo Francel. "Da fährst du durch Mecklenburg-Vorpommern und siehst eine Landschaft mit einem Sumpfloch. Und dann denkst du sofort: Das ist doch genau der 'kühle Grund' aus dem Lied ..."
Mittwoch, 8.5.2019, 19.30 Uhr im Prinzregententheater München. Das Konzert wird auch im Video-Livestream übertragen. Weitere Konzerttermine am 9. Mai in Gersthofen, am 10. Mai in Ludwigsburg und am 11. Mai in Fürstenfeld.
Dass es ausgerechnet deutsche Volkslieder sind, die den Saxofonisten beim Ensemble Quadro Nuevo seit einiger Zeit derart intensiv begleiten, ist schon bemerkenswert. Denn die erste Berührung, damals in der Schule im Chiemgau, wo der mittlerweile 51-Jährige aufgewachsen ist, war durchaus keine, die für eine positive Prägung gesorgt hätte. Ihren Musiklehrer, Herrn Meier, nannten Mulo und seine Mitschüler "Musimeier". In jeder Musikstunde wurde am Schluss ein Volkslied gesungen. Man bekam die Seitenzahl im Liederbuch genannt. "Dann hat sich der Lehrer ans Klavier gesetzt, gar nicht lange diskutiert. Er hat lauthals selber gesungen und wir mussten alle mitsingen."
Es war alles eher peinlich: Die Volkslieder waren peinlich. Und das Singen vor anderen, erinnert sich Mulo Francel, war sowieso immer peinlich. Womit der heute preisgekrönte Musiker übrigens das Schicksal von ganz vielen teilt. Vor der Klasse vorzusingen, steht auf Platz 1 der unangenehmen Erinnerungen an die Schulzeit. Das hat Anfang des Jahres eine Umfrage des evangelischen Magazins Chrismon ergeben: 40 Prozent aller Befragten hatten also keinen guten Start beim Singenlernen. Keine gute Voraussetzung fürs Pflegen der deutschsprachigen Volksliedtradition. Und wie kam es, dass Quadro Nuevo sie für sich entdeckt hat?
Die Musik von Quadro Nuevo ist im besten Sinn Weltmusik. Sie hat sich immer aus der Begegnung mit der Kultur anderer Länder gespeist: der orientalischen, der des Balkans, der Südamerikas und derjenigen der südeuropäischen und skandinavischen Länder. Überall haben die Musiker des Ensembles die unterschiedlichsten Volkslieder und deren typische Melodien kennengelernt und in ihre Musik aufgenommen. Aber genau genommen, gibt Mulo Francel zu bedenken, touren er und seine Mitstreiter die meiste Zeit doch in Deutschland. Und es sei ein wirklich komischer Moment gewesen, als sich die Globetrotter auf einmal die Frage gestellt hätten: Ist unsere eigene Kultur nicht eigentlich auch eine, der wir irgendwie begegnen können – sogar müssen? "So sind wir auf die Volkslieder gekommen. Und dann haben wir angefangen, sie abzuklopfen."
Das "Abklopfen" der deutschsprachigen Volkslieder, so kann man das im Booklet zur CD Volkslied Reloaded nachlesen, war für Quadro Nuevo ein persönliches Experiment: der Versuch, den Blick auf die eigene Kultur zu richten – mit all der musikalischen Erfahrung, die in den letzten Jahrzehnten in aller Welt gesammelt wurde. Es ist auch der Versuch, die musikalische Heimat, die von Beginn an der Jazz war, mit der Musik der geografischen Heimat zusammenzubringen. Und nicht zuletzt ist es ein Experiment mit Dringlichkeit. Denn wir leben in einer Zeit, in der das deutschsprachige Volkslied in der Versenkung zu verschwinden droht.
In unserem digitalen Zeitalter, in dem wir ständig diesen Mega-Informationsfluss um uns herum haben, werden diese einfachen alten Lieder doch völlig überlagert.
Die Herangehensweise an Volkslied Reloaded war – wie immer bei den Instrumentalmusikern von Quadro Nuevo – vor allem eine Melodie-orientierte. Zusammen gesungen wurde nicht. Aber über ein Jahr lang gesucht, probiert, herumarrangiert. Viele kleine Ansätze: trial and error. Und immer mit der Herausforderung, die Substanz der alten Lieder zu destillieren. In jedem Arrangement steckten sicher viele Hundert Stunden Arbeit, sagt Mulo Francel. "Und wenn du dann sogar nachts noch am Lied feilst, dann gehst du mit dem Lied ins Bett." Oft wären dann die Fragen gekommen: Was steckt hinter den Liedern? Was ist eigentlich Maikäfer flieg? Warum singt ein Kind: "Der Vater ist im Krieg, die Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt." Mulo Francel hat recherchiert – und Interessantes erfahren: Die Historiker sind sich bis heute nicht einig, ob Maikäfer flieg aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs stammt oder doch erst später, während der Zeit des Siebenjährigen Kriegs ab 1756, entstanden ist. Bemerkenswert ist so oder so, wie alt das Lied ist – und das Missverhältnis zwischen lieblicher Melodie und unheilvollem Text.
Mit den deutschen Volksliedern in die Vergangenheit zu reisen, findet Mulo Francel wunderbar: "Ich stell’ mir ganz oft vor, wie es früher an einem Ort war. Wie die Menschen angezogen waren, wenn sie sich da getroffen haben." Auf den Spuren des Schubert-Lieds "Am Brunnen vor dem Tore" ist Quadro Nuevo nach Bad Sooden-Allendorf ins Nordhessische gefahren. Den im Text von Wilhelm Müller ebenfalls beschworenen Lindenbaum vor dem Stadttor gab es wirklich: Er wurde rund 600 Jahre alt. Dann fiel er 1912 einem Hagelsturm zum Opfer. Aber die an selber Stelle nachgepflanzte Linde steht auch schon wieder über 100 Jahre. Und selbst, wenn der Ort heute nicht mehr mit freiem Blick auf Hügel und Felder aufwarten kann (er ist umringt von Reihenhäusern und Doppelhaushälften): Der Besuch habe sich gelohnt, beteuert Mulo Francel. "Und man kann sich wunderbar vorstellen, dass hier früher im Mai getanzt wurde. Oder dass sich an einem lauen Augustabend ein Liebespärchen niedergelassen hat." Für das Arrangement von Am Brunnen vor dem Tore hat sich Mulo Francel mit Peter Hinderthür aus Hamburg zusammengetan, der viel Erfahrung mit Filmmusik hat. Die Grundstimmung ist zwar farbig, aber dunkel gehalten und setzt ganz und gar auf Blech. Sehr klassisch, nur mit Holzbläsern, erklingt In einem kühlen Grunde, das Lied nach dem Text des Dichters Joseph von Eichendorff. 1814 hat ihn Friedrich Glück vertont. Das Arrangement stammt von Andreas Hinterseher, dem Akkordeonisten von Quadro Nuevo. "Ich spiele die Melodie mit der Bassklarinette, die dem Lied etwas Dunkles, Düsteres, wenig Fröhliches verleiht", sagt Mulo Francel. Das passe gut zum Inhalt: Es geht um Untreue. Die ersten Textzeilen lauten: "In einem kühlen Grunde, / Da geht ein Mühlenrad. / Mein’ Liebste ist verschwunden, / Die dort gewohnet hat."
Vergessen werden könne außerdem nicht der historische Ballast, der dem Lied anhaftet, räumt Mulo Francel ein. Wer den Film Comedian Harmonists (1997) gesehen hat, kann sich sicher an eine Schlüsselszene erinnern: Das Berliner Vokalensemble muss zum fränkischen Gauleiter Julius Streicher. Ausgerechnet der als Judenhasser bekannte Nazi ist ein großer Fan, protegiert die Gruppe, in der auch drei Juden sind. Streicher wünscht sich, dass sie sein "Lieblingslied" In einem kühlen Grunde singen. Angesichts der perversen Situation muss der 3. Tenor, Harry Frommermann, sich nach wenigen Takten übergeben. Dass die Nazis viele Volkslieder für ihre Zwecke vereinnahmten, das muss man wissen. Aber andererseits, so Mulo Francel, müsse man auch versuchen, sich zu lösen.
Diese Zeit ist Teil unserer Geschichte. Aber deswegen kann man nicht das ganze Genre in die Mülltonne stecken.
Insgesamt haben es knapp 20 Lieder ins Volkslied Reloaded-Programm mit dem Münchner Rundfunkorchester geschafft: fürs das Konzert und die Gastspiele im Mai 2019 sowie die CD, die Anfang Januar 2019 innerhalb einer Woche im Studio 1 des BR-Funkhauses eingespielt wurde. Es war eine tolle Woche mit einer sehr glücklichen Konstellation, sagt Mulo Francel: "Die Techniker, die Tonmeister, das Orchester – und die Dirigentin, die wir uns gewünscht haben." Mit Elisabeth Fuchs und ihrer Philharmonie Salzburg hatte Quadro Nuevo schon öfter zusammengespielt und war begeistert von ihrer Art. "Mit unseren Arrangements brechen wir ja auch mit den herkömmlichen Vorstellungen von Volkslied. Und wir wollten bewusst jemanden am Pult, den das Orchester und auch das Publikum nicht gewöhnt ist. Ein Bindeglied zwischen uns als fahrendem ‚Straßenköter-Ensemble‘ und dem klassischen Orchester."
Eine besondere Reminiszenz an seine bayerische Heimat hat Mulo Francel mit dem Stück Servus Habibi geschaffen: ein orientalisches Thema, das auf einen 5/4-Takt komponiert ist. Ein eher seltener Takt, im arabischen wie im deutschen Raum, "aber ich wollte ihn haben, weil man zwischendrin gut Zwiefache einfügen kann." Zwei der fünf musikalischen Zitate stammen von Carl Orff, dem sich Mulo Francel auf besondere Art und Weise verbunden fühlt: "Er hat – in Anführungsstrichen – Weltmusik gemacht wie wir, hat sich aus allen möglichen Kulturen und aus verschiedenen Zeiten Stücke genommen und daraus seine Musik gemacht." In Orffs weniger bekanntem Notenband Lieder und Tänze aus dem bajuwarischen Raum (1942) hat Mulo Francel Ui mei Händerl und einen Stampftanz gefunden. Zum Schluss die Frage, ob Mulo Francel eigentlich ein persönliches Lieblingslied hat? Klare Antwort: nein. Aber es gebe einige, die besonders viel Spaß machten. "Gut geht es mir mit Wohlauf in Gottes schöne Welt. Ich bin gerne unterwegs und finde es wunderbar, wenn man motiviert wird, in die Natur zu gehen. Wenn man um sechs Uhr in der Früh losmarschiert, dann ist es gut, so ein Lied zu haben. Solche Lieder können gute Freunde sein."