Wie klang das Mittelalter? Um die Lieder aus dem Codex Manesse zu singen, braucht es Forscherdrang und Fantasie – und dann entstehen wundervolle Klänge aus längst vergangenen Zeiten.
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Stichwort | 26.06.2011
Codex Manesse
Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach, Hartmann von Aue, Der Tannhäuser, Gottfried von Straßburg, Meister Heinrich Frauenlob, Konrad von Würzburg, Herr Neidhart, Süßkind: Die Namen der Dichter lesen sich wie das "Who is Who" der deutschen Lyrik des Mittelalters. Alles was Rang und Namen hat, ist in dieser Prachthandschrift vertreten – die "Große Heidelberger Liederhandschrift", wie der Codex Manesse auch genannt wird, gehört zu den wichtigsten Quellen mittelalterlicher Dichtkunst in deutscher Sprache.
Der Codex Manesse entstand zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Zürich, vermutlich auf Initiative von Johann und Rüdiger Manesse. Darin sollte die mittelhochdeutsche Lieddichtung in ihrer gesamten Gattungs- und Formenvielfalt zusammengetragen werden.
"Ich saz ûf eime steine,
und dahte bein mit beine;
dar ûf satzt ich den ellenbogen;
ich hete in mîne hant gesmogen
daz kinne und ein mîn wange.
dô dâhte ich mir vil ange,
wie man zer werlte solte leben: deheinen rât kond ich gegeben,
wie man driu dinc erwurbe, der deheinez niht verdurbe."
Berühmt wurde die Handschrift vor allem durch ihre farbenprächtigen, ganzseitigen bildlichen Darstellungen der Dichter. Über 130 solcher Miniaturen sind den Strophen vorangestellt. So wird der Sänger Walther von der Vogelweide, ein ellenlanges Pergament in den Händen, in grüblerischer Stellung gezeigt – heute würde man "Denkerpose" dazu sagen.
Die Reihenfolge der Lieder ist nach dem Stand der Autoren geordnet. So eröffnen die Sammlung die damaligen Herrscher, Kaiser Heinrich VI. und König Konradin. Ihnen folgen Fürsten und "Herren", und schließlich Berufsdichter wie Walther von der Vogelweide oder Wolfram von Eschenbach.
"Vnder der linden
an der heide
da vnser zweier bette was
da mugent ir vinden
schone beide
gebrochen bluomen vnd gras
vor dem walte in einem tal
tandaradei schone sanc dui nahtegal."
Etwas verwundern mag es, dass sich im Codex Manesse keine einzige Note findet. Obwohl die mittelalterliche Dichtung meist singend vorgetragen wurde, ist hier lediglich die literarische Leistung festgehalten. Die Herausforderung an Musiker und Wissenschaftler unserer Tage besteht also auch darin, im Vergleich mit anderen Quellen die Melodien und Vortragsweise der Lieder zu rekonstruieren.
Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 26. Juni 2011, 13.05 Uhr auf BR-KLASSIK