Man kann eigentlich gar nicht anders als immer wieder ungläubig staunen über die Universalgelehrte Hildegard, die vor fast 1.000 Jahren lebte und deren Schaffen bis heute nachwirkt.
Bildquelle: © Wellcome Images
Kräutertees à la Hildegard sollen den Stoffwechsel anregen. Fastenkurse in Klöstern versprechen Heilung von Innen und der Musikmarkt steuert die passenden Ambient Choräle bei. Der Name Hildegard von Bingen ist zu einer Werbemarke im boomenden Wellness-Markt avanciert. Dabei gerät die Tatsache ins Hintertreffen, dass diese Frau die bedeutendste Schriftstellerin und Komponistin des Mittelalters war. Sie beschrieb die Tier- und Pflanzenwelt bis ins Detail, beleuchtete das Wesen des Menschen unter verschiedensten Aspekten und zeigte Möglichkeiten auf, wie der Mensch in Beziehung zu Gott treten kann. Außerdem verfasste Hildegard von Bingen das erste Geistliche Singspiel Europas sowie etliche liturgische Gesänge.
Ihre Schriften sind in umfangreichen Handschriften überliefert, die in dem von ihr gegründeten Kloster Rupertsberg bei Bingen entstanden sind. Allerdings nahm sich Hildegard als Autorin zurück, indem sie verlautbarte, Gott selbst habe ihr die Hand geführt. "Ich aber, obgleich ich diese Dinge hörte, weigerte mich lange Zeit, sie niederzuschreiben aus Zweifel und Missglauben nicht aus Eigensinn, sondern weil ich der Demut folgte, bis die Geißel Gottes mich fällte und ich ins Krankenbett fiel. Dann endlich gab ich meine Hand dem Schreiben anheim."
Noch heute, über 800 Jahre nach Hildegards Tod; hält die katholische Kirche an dieser Darstellung fest. Am 10.Mai 2012 erhob Papst Benedikt XVI. Hildegard von Bingen offiziell zur Heiligen und Kirchenlehrerin und zitiert seinen Vorgänger, Papst Gregor IX.: "Hildegards Schriften enthalten keine menschlichen, sondern göttliche Worte."
Hildegard von Bingen, also bloß Sprachrohr Gottes? Es bleiben Fragen offen. Zum Beispiel, wieso Hildegard ein eigenes Alphabet und eine Geheimsprache erfand. Die Fantasiebuchstaben, sowie ihre Lingua Ignota, zeugen von einer kreativen Spielfreude, vom schöpferischen Umgang mit Sprache, ebenso in der Musik. Hildegard verfasste zwischen 1151 und 1158 über 70 Gesänge für den liturgischen Gebrauch. Die Wissenschaft ist sich inzwischen einig, dass es sich bei den Chorälen der Hildegard um Werke handelt, wie sie nur jemand hervorbringen konnte, der mit dem Repertoire und der Musizierpraxis jener Zeit bestens vertraut war. So schrieb die Musikwissenschaftlerin Marianne Richter-Pfau:
"Auch Hildegard fußt in ihren Gesängen zum einen auf dem traditionellen Repertoire des gregorianischen Chorals, zum anderen auf neueren musikalischen Formulierungen des 12.Jahrhunderts. Und doch ist ihre musikalische Sprache bei aller Formelhaftigkeit wiederum so individuell, dass ihre Stimme aus dem Chor des Mittelalters unverkennbar herauszuhören ist."
Unverkennbar und doch rätselhaft: gerade diese Mischung scheint es zu sein, die dem Leben und Wirken der Hildegard von Bingen ihren unvergänglichen Reiz verleiht. Wunderbar!
Sendungsthema aus "Forum Alte Musik" vom 2. Januar 2021, 22.05 Uhr auf BR-KLASSIK