Bildquelle: Melchior Küsel
Der erste, der es machte, war Ruffino d'Assisi. Zwar gab es bereits seit dem frühen 1.Jahrtausend den chorischen Wechselgesang, die sogenannten Antiphonie. Aber Ruffino brach ganz bewusst mit dieser altehrwürdigen Tradition. Vermutlich während seiner Zeit als magister cantus in Padua zwischen 1510 und 1520 setzte er die Technik des coro spezzato, also des geteilten Chores, ein, um insgesamt 8 Stimmen auf zwei 4stimmige Chöre zu verteilen. Der eigentliche revolutionäre Akt war dann die Aufgabe der Verseinheit bei den Psalmtexten. Ruffino löste sie in ihre Sinneinheiten und sogar einzelne Wörter auf. Damit entstanden Klangblöcke, die nun zusammen mit den getrennt voneinander aufgestellten Chören ganz neue musikalische Gestaltungsmöglichkeiten eröffneten.
Diese erste echte Doppelchörigkeit verband eine kompositorische Intention mit der vergleichsweise simplen Anforderung, die immer größer werdenden Kirchenräume möglichst klangfüllend zu bespielen. Wie auch der Willaert-Schüler Gioseffo Zarlino in seiner Schrift Istituzioni harmoniche von1558 ausführte: Es ging darum,
"in großen Kirchen, in denen die Vierstimmigkeit, auch wenn viele Sänger für jede Stimme vorhanden sind, dafür nicht mehr ausreicht, einen großen Klang zu erzielen, aber in diesem Klang auch Abwechslung zu schaffen."
Bereits hier traten typische Merkmale hervor, die später als Venezianische Mehrchörigkeit bekannt werden sollten: Die räumliche Disposition wurde als ein wesentliches und konstruktives Element bereits in den Vorgang des Komponierens mit einbezogen. Die gesamte Anlage zielte auf maximale Klangwirkung und damit auf das Festliche und Repräsentative.
Von diesen Anfängen in Padua gelangte die Doppelchörigkeit nach Venedig und wurde dort weiter entwickelt, eng verbunden mit den architektonischen Besonderheiten des Markusdoms. Auf den zahlreichen Nischen und Emporen wurden verschiedene vokale, instrumentale und gemischte Teilgruppen positioniert. Der Zuhörer steht im Zentrum einer Musik, die aus allen Richtungen kommt und ihn mit einer großartigen klingenden Pracht umhüllt. Als unangefochtener Meister der Venezianischen Mehrchörigkeit gilt Giovanni Gabrieli, nördlich der Alpen führte sein Schüler Heinrich Schütz die Gattung zu ihrem Höhepunkt.
In Venedig kam die Mehrchörigkeit um 1620 aus der Mode, schon bei Monteverdi spielte sie nur noch eine Nebenrolle. Sie hatte ihren Zenit überschritten, verschwand aber keineswegs, sondern wurde von vielen Komponisten weiterhin verwendet: von Bach bis Felix Mendelssohn Bartholdy, von Brahms bis Frank Martin. Konsequent weiter gedacht wurde die Idee schließlich mit den Raum-Kompositionen der Neuen Musik.
Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 21. August 2016, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK