Bedeutende Phase in der Entwicklung der frühen Mehrstimmigkeit: die Notre-Dame-Schule.
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Paris, zweiten Hälfte 12. Jahrhundert. Es wird damit begonnen, die Kathedrale Notre Dame in Paris zu errichten. Was macht diese Zeit bis etwa 1250 zu einer musikgeschichtlichen Epoche? Hier entsteht um 1200 ein beispielhaftes Repertoire von zwei- bis vierstimmigen Kompositionen.
Die Basis bildet der Magnus liber organi de gradali et antifonario von Magister Leonin, eine Sammlung von zweistimmigen liturgischen Gesängen. Perotin wird es zugeschrieben, diese Organa später auf drei, in Ausnahmefällen auch vier Stimmen erweitert zu haben - eine Leistung mit weitreichenden Folgen.
Bei den organa tripla stützen sich die beiden Diskant-Stimmen auf einen gemeinsamen Tenor. Sie werden als gleichwertig angesehen, wie eine zeitgenössische musiktheoretische Abhandlung beschreibt:
Erste und zweite Stimme sind gemeinsam und zugleich auf drei Dinge hin zu betrachten: Auf modus, damit Longa gegen Longa steht oder Breven, die jener gleichwertig sind. Auf numerus hin, damit gemäß der Gleichgewichtigkeit seitens der zweiten Stimme so viele Einheiten vorhanden sind wie seitens der ersten und umgekehrt. Auf concordantia hin, damit die erste Stimme ordnungsgemäß gut mit der zweiten zusammenklinge und umgekehrt.
In der Musik in und um Notre Dame entwickelt sich zusammen mit einer Ordnung von Konsonanz und Dissonanz auch ein geschlossenes rhythmisches System. Dazu wird eine neue Art der Notation notwendig: die Modalnotation erlaubt es zum ersten Mal überhaupt, auch Rhythmen eindeutig zu bestimmen.
Damit koppelt sich die Entstehung der Musik ein Stück weit von ihrem Vortrag ab. Man schreibt nicht mehr auf, was man singt, sondern kann den musikalischen Verlauf bereits vorher festlegen. In Paris wird die Wandlung von einer schriftlich fixierten Aufführungspraxis zu eigentlicher Komposition fassbar.