Bildquelle: Niccolo Haym
Die Motette "Spem in Alium" von Thomas Tallis: der erste Chor beginnt, der zweite setzt ein, dann der dritte. Wenn die Legende stimmt, wurde sie im Nonsuch Palace gesungen, einem von Heinrich VIII. entworfenen Palast. Dort gab es einen Saal, achteckig, mit acht Balkonen, auf denen die Sänger standen. Die Musik erklang rundherum, erst vorne, dann rechts, dann hinten, dann links, zunächst nur ein paar Chöre gemeinsam, bis schließlich, nach knapp drei Minuten, alle acht Chöre gemeinsam sangen. Der perfekte Ort für dieses gewaltige Werk, eine Motette für 40 Stimmen, aufgeteilt in acht Chöre zu je fünf Sängern.
Eine kraftvolle Antwort auf ein ebenfalls 40-stimmiges und hoch gelobtes Werk des Italieners Alessandro Striggio. "Der Herzog, der eine große Liebe zur Musik hegte, wollte wissen, ob denn kein Engländer ein ebenso gutes Stück setzen könne, und Tallis schrieb ein Stück mit 40 Stimmen, das die Erwartungen übertraf, so sehr, dass der Herzog, als er dieses Stück hörte, seine Goldkette abnahm und sie Tallis um den Hals legte und ihm schenkte."
Als Thomas Tallis die Motette "Spem in Alium" schreibt, ist er längst ein anerkannter Komponist. Er ist "Gentleman der Chapel Royal", also am englischen Königshof tätig und dient unter Heinrich VIII. und nach dessen Tod unter dessen drei Kindern, die nacheinander an die Macht kommen: Edward, Maria und schließlich Elisabeth. Es ist die Zeit des großen Umbruchs. König Heinrich löst sich und damit auch sein Land von der römisch-katholischen Kirche ab. Die Muttergottes wird nicht mehr angebetet, außerdem soll nicht mehr auf lateinisch, sondern auf englisch gebetet und gesungen werden. Mit einem Schlag ist das geistliche Frühwerk von Thomas Tallis aus den Kirchen verbannt. Als er knapp 50 Jahre ist, kehrt Königin Maria zum Katholizismus zurück, ihre Halbschwester Elizabeth führt fünf Jahre später erneut den englischen Protestantismus ein.
Tallis kann sich behaupten, er ist enorm wandlungsfähig, ob als Komponist von lateinischen Motetten, oder als Komponist von englischen Services oder Anthems. Auch Instrumentalmusik zählt zu seinem Werk, allerdings nimmt das einen kleineren Teil ein.
Königin Elisabeth I. gewährt Tallis eine große Sonderstellung: gemeinsam mit seinem ehemaligen Schüler William Byrd erhält er ein Druckprivileg. Die beiden sind nun die Einzigen, die Musik drucken dürfen - wer gegen dieses Privileg verstößt, muss ein Bußgeld entrichten und die Rechte der illegal veröffentlichten Werke an Tallis und Byrd abtreten. William Byrd schreibt schließlich auch eine Trauermusik mit dem Text "Tallis is dead, and music dies" - "Tallis ist tot, und die Musik stirbt", als Thomas Tallis 1585 mit etwa 80 Jahren das Zeitliche segnet und England einen seiner wichtigsten Komponisten verliert.