Hildur Guðnadóttir – vor einem Jahr hätte dieser Name wahrscheinlich den wenigsten etwas gesagt. Ausgenommen vielleicht Fans der Berliner Avantgardemusikszene. Filmmusikliebhabern wohl auch. Der großen Masse? Eher nicht. Ein Jahr und vier Filmmusikpreise später ist das anders.
Bildquelle: © Timothée Lambrecq
Emmy, Grammy, Golden Globe und Oscar - Hildur Guðnadóttir hat in kürzester Zeit alles erreicht, was man als Filmkomponistin in Hollywood erreichen kann. Ausgerechnet sie, die mit den klassischen, amerikanischen Filmsoundtracks überhaupt nichts am Hut hat. Weder mit den symphonischen Fanfaren eines John Williams (der in diesem Jahr mit Guðnadóttir um den Oscar konkurriert hat), noch mit den bombastischen Samplesounds eines Hans Zimmer. Die seien ihr schlicht zu überfrachtet, so Gudnadottir unlängst in der taz.
Tatsächlich hat die 37-jährige Isländerin einen neuen Sound nach Hollywood gebracht: reduziert, stark atmosphärisch und extrem physisch. Musik wie geschaffen dafür, dem Unheimlichen einem Raum zu geben: Der Gewissheit, dass da Gefahr ist, auch wenn man nichts sieht. Ihr Soundtrack dürfte jedenfalls entscheidend dazu beigetragen haben, dass die Serie "Chernobyl" so derart durch die Decke ging. Zwar kann man die tödliche Strahlung auch im Film nicht sehen. Trotzdem ist sie mit Händen zu greifen: in den bedrohlich brandenden Bässen und den rostig-rauen Klangflächen. Fast so, als hätte man den Geschmack von Metall im Mund. Wie die Feuerwehrmänner, die nach dem Gau zum havarierten Kraftwerk gerufen und dort tödlich verstrahlt werden.
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Chernobyl Soundtrack Full Album|HBO
Für "Chernobyl" hat sich Hildur Guðnadóttir auf akustische Spurensuche begeben, in einem litauischen Atomkraftwerk, einer Anlage ähnlich der in Tschernobyl. Im Strahlenschutzanzug und mit dem Mikrophon in der Hand hat sie den Kraftwerksound festgehalten, das Quietschen der Schuhe in den endlosen Fluren, das Knallen schwerer Stahltüren, ächzende Leitungen oder das Summen der Elektronik. Was daraus entstanden ist, nennt Guðnadóttir: faktenbasierte Musik.
Aber nicht nur fürs Faktische, auch fürs Fiktive hat Guðnadóttir ein Händchen. Klar ist das spätestens seit ihrer oscarprämierten Filmmusik zu "Joker". Deren Entstehungsgeschichte ist ganz anders, aber ähnlich ungewöhnlich wie die des "Chernobyl"-Soundtracks. Guðnadóttir schrieb die Musik schon Monate vor dem Dreh. Todd Phillips, Regisseur des Films, schickte ihr sein Skript. Die studierte Cellistin setzte sich ans Instrument und improvisierte. Das Ergebnis: ein Tanz in Superzeitlupe, schwarz, schwerelos – und so suggestiv, dass der Track sogar am Set verwendet wurde. Joaquin Phoenix tanzt dazu, unmittelbar nachdem die von ihm verkörperte Figur, Arthur Fleck, zum Mörder geworden ist. Eine tranceartige Szene, in der aus Fleck endgültig der Joker wird.
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Joker (2019) - 'Bathroom Dance' scene [1080p]
Erst sphärisch, dann plötzlich brutal: Aus dem Tanz wird ein Marsch, ein stampfender Feldzug. Irre wie schnell Guðnadóttir hier die Atmosphäre, den Tonfall verändert. Sie ist eben auch eine Meisterin des Cellosounds. Eine Molekularmusikerin, die virtuos mit der Textur des Klanges spielt; die das Instrument wahlweise wolkig, holzig oder brassig klingen lässt. Stellenweise hat man da als Hörer das Gefühl, sie streiche über die Saiten einer Bassgitarre.
Zugute kommt der Wahlberlinerin dabei, dass sie neben dem Cello auch Elektroakustik studiert hat. Seit Jahren experimentiert sie mit der computergestützten Bearbeitung des Celloklangs. Und mit neuen Spieltechniken: Schon als Kind, so Guðnadóttir, habe sie nie verstanden, warum es richtige und falsche Arten geben sollte, Musik zu machen. Dass sie sich nie für eine Solo- oder Orchesterkarriere interessiert und sich stattdessen in der Berliner Experimentalmusikszene einen Namen gemacht hat, ist da nur konsequent. Schon vier Soloalben hat Guðnadóttir veröffentlicht: Düsterer Ambient, irgendwo zwischen Arvo Pärt, Brian Eno und Drone-Metal
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Elevation
Neben ihren Soloprojekten spielt Guðnadóttir in diversen Bands und Ensembles. Außerdem schreibt sie Musik für die Bühne, etwa das Schwedische Nationaltheater, oder für Museen wie die Tate Modern. Auch Filmmusik macht sie nicht erst seit gestern: Erwähnenswert ist vor allem die Zusammenarbeit mit ihrem 2018 verstorbenen Freund und Kollegen Jóhann Jóhannsson für den Soundtrack von "Maria Magdalena".
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Hildur Gudnadottir & Johann Johannsson - The Mustard Seed (Mary Magdalene Soundtrack)
An ihrem ganz speziellen Sound arbeitet Guðnadóttir schon seit 20 Jahren. Nur wahrgenommen haben das viele erst seit ihren Erfolgen der letzten Monate. Darunter die altehrwürdige Deutsche Grammophon, bei der Hildur Guðnadóttir seit letztem Herbst exklusiv unter Vertrag steht. Dort setzt die Komponistin mit ihrer ersten Veröffentlichung gleich ein politisches Ausrufezeichen: Das Chorstück "Fólk fær andlit" (Menschen bekommen Gesichter) ist eine Antwort auf die Flüchtlingskrise im Jahr 2015, als – so Guðnadóttir – "todkranke albanische Kinder mit ihren Eltern aus Island abgeschoben wurden".
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Fólk fær andlit
Zwar ist Hildur Gudnadottir in diesem Jahr mit keinem Film auf der Berlinale vertreten. Dennoch haben es sich die Veranstalter nicht nehmen lassen, die oscarprämierte Wahlberlinerin einzuladen. Am Sonntag, den 23. Febaruar, wird Guðnadóttir im Rahmen der Sektion "Berlinale Talents" eine Lecture vor Nachwuchsfilmern aus aller Welt halten.
Sendung: "Allegro" am 20. Februar 2020 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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